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Brigitte Bailer-Galanda

Die sechziger Jahre – erster Abschluss und neuer Aufbruch?

Internationale Positionierung der ökonomisch erstarkten Zweiten Republik
Bedeutungsverlust der Großen Koalition
Überwindung des Kalten Krieges unter den Opferverbänden
Der Finanz- und Ausgleichsvertrag mit der Bundesrepublik Deutschland von Bad Kreuznach
Die Rolle der Südtirol-Propaganda für die Neuformierung des Rechtsextremismus
Der Skandal um Taras Borodajkewycz und der Tod Ernst Kirchwegers
Neuorientierung der Geschichtspolitik: Drimmel-Kommission, Gründung von IfZ und DÖW
Das erste staatliche Widerstandskämpferdenkmal

Auf den ersten Blick scheint die Entwicklung der Sechziger Jahre in Österreich vergleichsweise unspektakulär, sieht man vom großen Skandal rund um Taras Borodajkewycz einmal ab. Doch beim näheren Hinsehen erweist sich dieses Jahrzehnt als Schnittstelle zwischen unmittelbarer Nachkriegszeit und neuen Strömungen der Zweiten Republik. Es waren dies jene Jahre, die den Abgesang der alten Kräfte und deren letztes Aufbäumen ebenso markieren wie den Beginn einer neuen Beschäftigung mit der Zeitgeschichte und ein erstes Aufbrechen der politischen Strukturen der Zweiten Republik. Der Zeitraum von Ende der fünfziger bis Ende der sechziger Jahre war auf fast allen Ebenen von Widersprüchen und Ambivalenzen, einem "Ja, aber" charakterisiert.

Internationale Positionierung der ökonomisch erstarkten Zweiten Republik
Weltpolitisch schien die Trennung zwischen westlicher und kommunistischer Einflussphäre gefestigt, das vom Tode Stalins 1953 ausgelöste vorsichtige Tauwetter brachte im US-Besuch Chrustschows 1959 und in der Begegnung des sowjetischen Regierungschefs mit US-Präsident Kennedy in Wien 1961 ein Aufweichen der im Kalten Krieg verhärteten Fronten, das zum Zeitpunkt der Kubakrise 1962 eine Lösung auf dem Verhandlungswege zwischen Washington und Moskau ermöglichte. Der Rückschlag kam dann 1968 mit der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Paktes. Die damals begonnene Entwicklung konnte trotzdem nicht mehr rückgängig gemacht werden, wenn es auch noch mehr als 20 Jahre bis zum Fall des Eisernen Vorhanges brauchte.
Wirtschaftlich erging es Österreich an der Wende zu den sechziger Jahren gut und der Wohlstand der ÖsterreicherInnen wuchs in beträchtlichem Maße. Wie Hanisch anmerkt, stieg das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1958 und 1963 um 21 Prozent, allerdings verlangsamte sich das Wachstum 1962 und 1967 in kurzfristigen Rezessionen, eine Strukturkrise der Industrie führte zum Abbau tausender Beschäftigter auf der einen, und einem rasanten Anstieg der Investitionsquote auf der anderen Seite.

Bedeutungsverlust der Großen Koalition
Innenpolitisch läutete die erste Hälfte des Jahrzehnts das Ende der großen Koalition und der Proporzdemokratie ein. Die zu Anfang der Zweiten Republik als notwendiger Schulterschluss zur Bewältigung der drängenden wirtschaftlichen Fragen sowie als gemeinsame Front gegenüber den Besatzungsmächten entstandene Koalition der beiden Großparteien hatte nach dem Staatsvertrag und in Zeiten wirtschaftlicher Konsolidierung ihre Bedeutung verloren.
Die Ängste vor einem neuen Aufbrechen der Gegensätze der dreißiger Jahre waren in der jüngeren Generation der WählerInnen keineswegs mehr präsent, die Verdrängung des Bürgerkriegs von 1934 (Pelinka) hatte Wirkung gezeigt. Die Auseinandersetzung um die Einreiseerlaubnis für Otto Habsburg zog eine schwere Krise innerhalb der Koalition nach sich, in der der Erosionsprozess der Zusammenarbeit von SPÖ und ÖVP mehr als deutlich wurde. SPÖ und FPÖ arbeiteten "ungeniert" (Hanisch) zusammen und zwangen so die Volkspartei, von Otto Habsburg den "Verzicht auf die Einreise" (Hanisch) zu erbitten. Die Krise konnte zwar überwunden werden, die Risse in der Koalition wirkten aber weiter.
Die 800.000 Unterschriften für das ein Jahr später durchgeführte Volksbegehren für einen parteifreien Rundfunk signalisierten zumindest Unzufriedenheit eines Teiles des Wählervolkes mit dem koalitionären Proporzsystem.
Die Nationalratswahlen 1966 brachten das vorläufige Ende der großen Koalition, auf die Alleinregierung der ÖVP folgte bekanntlich 1970 die Minderheitsregierung Kreiskys, die nur durch die Duldung durch die FPÖ möglich wurde. Die Parteienlandschaft war in Bewegung geraten, auch wenn es noch fast ein weiteres Jahrzehnt bis Formierung neuer politischer Strömungen dauern sollte. Das Ende der traditionellen Lagerbindung der Wählerinen und Wähler hatte jedoch bereits begonnen. Auch innenpolitisch hatte der Kalte Krieg an Wirkung eingebüßt; die KPÖ als Ziel antikommunistischer und antisowjetischer Einstellungsmuster war seit der Nationalratswahl 1959 nicht mehr im Nationalrat vertreten.

Überwindung des Kalten Krieges unter den Opferverbänden
Deutlich wurde die geänderte Haltung auch im Verhältnis der drei politischen Opferverbände zueinander. Der 1947 konstituierte überparteiliche Bund der politisch Verfolgten war nur ein Jahr später, unter anderem in Reaktion auf die kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei, mit dem Vorwurf aufgelöst worden, die kommunistischen Widerstandskämpfer hätten versucht, den Bund zu majorisieren. In der Folge gründeten SPÖ, ÖVP und KPÖ ihre eigenen Verbände, deren Aktivitäten jeweils strikt an den Vorgaben der Mutterparteien orientiert wurden. Eine Zusammenarbeit der Sozialistischen Freiheitskämpfer und der ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten mit dem KPÖ-nahen KZ-Verband wurde um jeden Preis vermieden, gemeinsame Arbeit zugunsten der ehemaligen WiderstandskämpferInnen und Verfolgten blieb auf Jahre hinaus unmöglich. Eine Mitgliedschaft in dem nie ausschließlich von Kommunisten geleiteten KZ-Verband wurde seitens ÖVP und SPÖ mit dem Parteiaussschluss bedroht.
Auch diese Grenzziehung begann Ende der fünfziger Jahre durchlässig zu werden. 1957 wurden gemäß den Bestimmungen des Staatsvertrags von 1955 Sammelstelle A und Sammelstelle B zur Erfassung und Verwertung des erblosen Vermögens von Opfern des Nationalsozialismus gegründet. Dabei sollte Sammelstelle A das Vermögen von Mitgliedern der Israelitischen Kultusgemeinde sammeln, Sammelstelle B das Vermögen politisch Verfolgter bzw. als Juden verfolgter Menschen, die nicht mehr der jüdischen Religion angehörten. In das Kuratorium der Sammelstelle B wurden nun erstmals Vertreter aller Opferverbände, auch des KZ-Verbandes eingeladen. Dies wurde zum Ausgangspunkt erster unmittelbarer Zusammenarbeit der drei Verbände, die in der Folge vehemente Forderungen nach einer Erweiterung der Gesetzgebung zugunsten der NS-Opfer im Rahmen des so genannten Opferfürsorgegesetzes erhoben.

Der Finanz- und Ausgleichsvertrag mit der Bundesrepublik Deutschland von Bad Kreuznach
Die Umsetzung dieser Forderungen junktimierte die österreichische Bundesregierung allerdings mit einem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland, die eine Zuzahlung der BRD zu österreichischen Maßnahmen für NS-Opfer sowie zu Maßnahmen für so genannte "Heimatvertriebene" ("Volksdeutsche") zum Ziele hatten. Nachdem die BRD sich anfangs geweigert hatte, auch für österreichische NS-Opfer finanzielle Verantwortung zu übernehmen, konnte sie nach Aufnahme von Gesprächen zur Entschädigung auch italienischer NS-Opfer solche mit Österreich nicht mehr verweigern.
Im November 1961 kam es zur Unterzeichnung des Finanz- und Ausgleichsvertrags von Bad Kreuznach, der gleichzeitig einen Schlusspunkt unter langwierige österreichisch-deutsche Vermögensverhandlungen zur Bereinigung der Folgen der NS-Zeit darstellte. Neben der deutlichen Erweiterung der Opferfürsorgegesetzgebung wurden schließlich auch die in einem Notenwechsel mit den Westalliierten im Frühjahr 1959 vereinbarten weiteren Entschädigungsmaßnahmen in Kraft gesetzt: der Abgeltungsfonds zur Entschädigung für die Leistung von Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe, eingezogener Bankkonten, Wertpapiere, Bargeld; weiters eine Entschädigung für Berufs- und Ausbildungsschäden ehemaliger ÖsterreicherInnen durch den neuen Hilfsfonds sowie Pensionsnachzahlungen für die Jahre 1938-1945 und weitergehende Pensionsregelungen für ehemals Verfolgte. Damit schien für Politiker, aber auch Opferverbände die Geschichte der fälschlich so bezeichneten "Wiedergutmachung" beendet zu sein, also auch dieser Bereich der Kriegsfolgen wurde für erledigt erachtet. Nahum Goldmann, der Vorsitzende der Jewish Claims Conference und des Committee for Jewish Claims on Austria, gab eine – heute heftig umstrittene – Entfertigungserklärung ab, in der er alle jüdischen Forderungen für erfüllt erklärte. Erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre kam es hier zu neuen Initiativen der Opferverbände und in den neunziger Jahren trat die Frage der Entschädigung von NS-Unrecht aus verschiedensten Gründen nochmals auf die internationale Tagesordnung.

Die Rolle der Südtirol-Propaganda für die Neuformierung des Rechtsextremismus
Zeichnete sich auf mehreren Ebenen in den sechziger Jahren ein erster Abschluss der unmittelbaren Nachkriegszeit ab, erlebte der österreichische Rechtsextremismus insbesondere an den Universitäten einen letzten Höhepunkt, bevor er im nächsten Jahrzehnt einen erfreulichen Bedeutungsverlust hinzunehmen hatte. Bereits 1959 war die österreichische Öffentlichkeit bei den so genannten "Schillerfeiern" auf das breite Spektrum der wieder bzw. neu erstandenen rechtsextremen und neonazistischen Organisationen, besonders unter Jugendlichen, mit Erschrecken aufmerksam geworden.
Die Krise um die Autonomie Südtirols, die im selben Jahr internationalisiert worden war, benutzten Rechtsextreme um Norbert Burger, mehrheitlich Angehörige deutschnationaler "schlagender" Burschenschaften dazu, mittels terroristischer Anschläge, die den Verlust von Menschenleben und beträchtlichen Sachschaden nach sich zogen, auf die angeblich unterdrückte deutschsprachige Bevölkerung Südtirols aufmerksam zu machen. Das Thema Südtirol blieb in den folgenden Jahren ein zentraler Aspekt rechtsextremer Propaganda in Österreich.

Der Skandal um Taras Borodajkewycz und der Tod Ernst Kirchwegers
An den Universitäten fanden Burschenschafter, mehrheitlich im Ring Freiheitlicher Studenten politisch organisiert, eine breite Anhängerschaft. Sie konnten in der ersten Hälfte der sechziger Jahre beinahe ein Drittel der Stimmen bei Hochschülerschaftswahlen für sich gewinnen. 1962 machen sozialistische Studenten – der heutige Bundespräsident Heinz Fischer sowie der ehemalige Finanzminister Ferdinand Lacina – auf den antisemitischen Charakter der Vorlesungen der Professors an der damaligen Hochschule für Welthandel Taras Borodajkewycz aufmerksam. Die folgende Affäre kann daher nicht nur als letztes Aufbäumen des Rechtsextremismus an den Hochschulen, sondern auch als erste nachdrückliche antifaschistische studentische Aktivität interpretiert werden, einige Jahre noch vor den Pariser Studentenunruhen von 1968.
Doch erst 1965 eskalierte die Affäre, als Borodajkewycz vor laufenden Fernsehkameras seinem Antisemitismus unter dem johlenden Beifall seiner Anhänger Ausdruck verlieh. Gegen eine von der Österreichischen Widerstandsbewegung organisierte Kundgebung formierte sich eine Gegendemonstration, die mit Rufen wie "Hoch Auschwitz" provozierte. Im Zuge der Auseinandersetzungen wurde der Anhänger der Widerstandsbewegung, Ernst Kirchweger, von einem rechtsextremen Buschenschafter tödlich verletzt.
Das Begräbnis Kirchwegers gestaltete sich zu einer Kundgebung auch der Bundesregierung gegen den militanten Rechtsextremismus. Die ein Jahr später erfolgte Gründung der neonazistischen Nationaldemokratischen Partei durch den führenden Südtirol-Aktivisten Norbert Burger erwies sich bereits als politisch erfolglos und konnte bei Wahlen keine nennenswerte Anzahl von Stimmen für sich gewinnen, außer dann unter besonderen Konstellationen bei der Bundespräsidentenwahl 1980 (3,2 %). Der Niedergang des Rechtsextremismus hatte bereits begonnen.

Neuorientierung der Geschichtspolitik: Drimmel-Kommission, Gründung von IfZ und DÖW
Zur selben Zeit war eine "Neuorientierung der Geschichtspolitik" (Heidemarie Uhl) zu verzeichnen. Dominierten in den fünfziger Jahren die Veteranenverbände die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, trat Anfang der sechziger Jahre das Interesse an einer anderen, nunmehr wissenschaftlichen Interpretation der Zeitgeschichte in den Vordergrund. 1962 konstituierte sich die Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte bzw. das österreichische Institut für Zeitgeschichte in Wien.
1963 beauftragten Justizminister Christian Broda und Unterrichtsminister Heinrich Drimmel die Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte unter Leitung von Ludwig Jedlicka damit, eine Dokumentation über den österreichischen Wider­stand zu erstelle. Mitarbeiter waren dabei unter anderen der spätere Universitätsprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Linz Karl R. Stadler und Herbert Steiner. Die Arbeiten mussten allerdings aufgrund des Wegfalls der Finanzierung 1966 eingestellt werden.
Im selben Jahr fand dann mit der Errichtung des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien, dessen erster Leiter, Univ. Prof. Dr. Ludwig Jedlicka, auch zu den Mitbegründern des DÖW zählte, zeitgeschichtliche Forschung Eingang in den universitären Wissenschaftsbetrieb.
1963 gründeten ehemalige WiderstandskämpferInnen und Verfolgte um Herbert Steiner gemeinsam mit Wissenschaftern das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, das – ungeachtet seines Namens – nicht nur den Widerstand gegen das NS-Regime dokumentierte, sondern 1966/67 in Zusammenarbeit mit dem Europa-Verlag auch die ersten österreichischen Arbeiten zur Verfolgung der Jüdinnen und Juden sowie der Roma und Sinti publizierte.

Das erste staatliche Widerstandskämpferdenkmal
1965 wurde am 20. Jahrestag der österreichischen Unabhängigkeitserklärung im Äußerem Burgtor der Wiener Hofburg der Weiheraum für den österreichischen Freiheitskampf feierlich eröffnet, "das erste staatliche, von der Republik Österreich errichtete Widerstandskämpferdenkmal" (Heidemarie Uhl). Diese Berufung auf den Widerstand durch die öffentliche Erinnerung, die aus heutiger Sicht als "Teil einer Verdrängungsstrategie" des offiziellen Österreich erscheint, stellte in den sechziger Jahren ein kritisches, gegen die Geschichtsauffassung der Kameradschaftsverbände und der Wehrmachtstradition gerichtetes Konzept dar.
Die junge Zeitgeschichte – dem Institut in Wien folgte bald auch ein Institute in Salzburg – widmete sich neben der Geschichte der Arbeiterbewegung vor allem jener des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, der nunmehr, 20 Jahre nach Ende des Krieges, zur Identifikation des neuen Österreich herangezogen wurde. 1945 waren ähnliche Bestrebungen – die Verankerung der WiderstandskämpferInnen als die wahren ÖsterreicherInnen im öffentlichen Bewusstsein – noch kläglich gescheitert.
Am Ende der sechziger Jahre hatten alle die genannten Widersprüche und Ambivalenzen zu neuer Qualität geführt, die dann die siebziger Jahre prägte und wohl erst die Alleinregierungen Kreisky ermöglicht hatte.


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Referat von Brigitte Bailer, wiss. Leiterin des DÖW, auf dem Symposion "Die Auschwitzprozesse von Frankfurt und Wien als Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in Deutschland und Österreich" aus Anlass des 10. Todestages von Hermann Langbein, IWK, 8.10.2005