Auf den ersten Blick scheint die Entwicklung der Sechziger Jahre
in Österreich vergleichsweise unspektakulär, sieht man vom großen
Skandal rund um Taras Borodajkewycz einmal ab. Doch beim näheren Hinsehen
erweist sich dieses Jahrzehnt als Schnittstelle zwischen unmittelbarer Nachkriegszeit
und neuen Strömungen der Zweiten Republik. Es waren dies jene Jahre,
die den Abgesang der alten Kräfte und deren letztes Aufbäumen ebenso
markieren wie den Beginn einer neuen Beschäftigung mit der Zeitgeschichte
und ein erstes Aufbrechen der politischen Strukturen der Zweiten Republik.
Der Zeitraum von Ende der fünfziger bis Ende der sechziger Jahre war
auf fast allen Ebenen von Widersprüchen und Ambivalenzen, einem "Ja,
aber" charakterisiert.
Internationale Positionierung der ökonomisch
erstarkten Zweiten Republik
Weltpolitisch schien die Trennung zwischen westlicher und kommunistischer
Einflussphäre gefestigt, das vom Tode Stalins 1953 ausgelöste vorsichtige
Tauwetter brachte im US-Besuch Chrustschows 1959 und in der Begegnung des
sowjetischen Regierungschefs mit US-Präsident Kennedy in Wien 1961 ein
Aufweichen der im Kalten Krieg verhärteten Fronten, das zum Zeitpunkt
der Kubakrise 1962 eine Lösung auf dem Verhandlungswege zwischen Washington
und Moskau ermöglichte. Der Rückschlag kam dann 1968 mit der gewaltsamen
Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer
Paktes. Die damals begonnene Entwicklung konnte trotzdem nicht mehr rückgängig
gemacht werden, wenn es auch noch mehr als 20 Jahre bis zum Fall des Eisernen
Vorhanges brauchte.
Wirtschaftlich erging es Österreich an der Wende zu den sechziger Jahren
gut und der Wohlstand der ÖsterreicherInnen wuchs in beträchtlichem
Maße. Wie Hanisch anmerkt, stieg das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1958
und 1963 um 21 Prozent, allerdings verlangsamte sich das Wachstum 1962 und
1967 in kurzfristigen Rezessionen, eine Strukturkrise der Industrie führte
zum Abbau tausender Beschäftigter auf der einen, und einem rasanten Anstieg
der Investitionsquote auf der anderen Seite.
Bedeutungsverlust der Großen Koalition
Innenpolitisch läutete die erste Hälfte des Jahrzehnts das Ende
der großen Koalition und der Proporzdemokratie ein. Die zu Anfang der
Zweiten Republik als notwendiger Schulterschluss zur Bewältigung der
drängenden wirtschaftlichen Fragen sowie als gemeinsame Front gegenüber
den Besatzungsmächten entstandene Koalition der beiden Großparteien
hatte nach dem Staatsvertrag und in Zeiten wirtschaftlicher Konsolidierung
ihre Bedeutung verloren.
Die Ängste vor einem neuen Aufbrechen der Gegensätze der dreißiger
Jahre waren in der jüngeren Generation der WählerInnen keineswegs
mehr präsent, die Verdrängung des Bürgerkriegs von 1934 (Pelinka)
hatte Wirkung gezeigt. Die Auseinandersetzung um die Einreiseerlaubnis für
Otto Habsburg zog eine schwere Krise innerhalb der Koalition nach sich, in
der der Erosionsprozess der Zusammenarbeit von SPÖ und ÖVP mehr
als deutlich wurde. SPÖ und FPÖ arbeiteten "ungeniert"
(Hanisch) zusammen und zwangen so die Volkspartei, von Otto Habsburg den "Verzicht
auf die Einreise" (Hanisch) zu erbitten. Die Krise konnte zwar überwunden
werden, die Risse in der Koalition wirkten aber weiter.
Die 800.000 Unterschriften für das ein Jahr später durchgeführte
Volksbegehren für einen parteifreien Rundfunk signalisierten zumindest
Unzufriedenheit eines Teiles des Wählervolkes mit dem koalitionären
Proporzsystem.
Die Nationalratswahlen 1966 brachten das vorläufige Ende der großen
Koalition, auf die Alleinregierung der ÖVP folgte bekanntlich 1970 die
Minderheitsregierung Kreiskys, die nur durch die Duldung durch die FPÖ
möglich wurde. Die Parteienlandschaft war in Bewegung geraten, auch wenn
es noch fast ein weiteres Jahrzehnt bis Formierung neuer politischer Strömungen
dauern sollte. Das Ende der traditionellen Lagerbindung der Wählerinen
und Wähler hatte jedoch bereits begonnen. Auch innenpolitisch hatte der
Kalte Krieg an Wirkung eingebüßt; die KPÖ als Ziel antikommunistischer
und antisowjetischer Einstellungsmuster war seit der Nationalratswahl 1959
nicht mehr im Nationalrat vertreten.
Überwindung des Kalten Krieges
unter den Opferverbänden
Deutlich wurde die geänderte Haltung auch im Verhältnis der drei
politischen Opferverbände zueinander. Der 1947 konstituierte überparteiliche
Bund der politisch Verfolgten war nur ein Jahr später, unter anderem
in Reaktion auf die kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei,
mit dem Vorwurf aufgelöst worden, die kommunistischen Widerstandskämpfer
hätten versucht, den Bund zu majorisieren. In der Folge gründeten
SPÖ, ÖVP und KPÖ ihre eigenen Verbände, deren Aktivitäten
jeweils strikt an den Vorgaben der Mutterparteien orientiert wurden. Eine
Zusammenarbeit der Sozialistischen Freiheitskämpfer und der ÖVP-Kameradschaft
der politisch Verfolgten mit dem KPÖ-nahen KZ-Verband wurde um jeden
Preis vermieden, gemeinsame Arbeit zugunsten der ehemaligen WiderstandskämpferInnen
und Verfolgten blieb auf Jahre hinaus unmöglich. Eine Mitgliedschaft
in dem nie ausschließlich von Kommunisten geleiteten KZ-Verband wurde
seitens ÖVP und SPÖ mit dem Parteiaussschluss bedroht.
Auch diese Grenzziehung begann Ende der fünfziger Jahre durchlässig
zu werden. 1957 wurden gemäß den Bestimmungen des Staatsvertrags
von 1955 Sammelstelle A und Sammelstelle B zur Erfassung und Verwertung des
erblosen Vermögens von Opfern des Nationalsozialismus gegründet.
Dabei sollte Sammelstelle A das Vermögen von Mitgliedern der Israelitischen
Kultusgemeinde sammeln, Sammelstelle B das Vermögen politisch Verfolgter
bzw. als Juden verfolgter Menschen, die nicht mehr der jüdischen Religion
angehörten. In das Kuratorium der Sammelstelle B wurden nun erstmals
Vertreter aller Opferverbände, auch des KZ-Verbandes eingeladen. Dies
wurde zum Ausgangspunkt erster unmittelbarer Zusammenarbeit der drei Verbände,
die in der Folge vehemente Forderungen nach einer Erweiterung der Gesetzgebung
zugunsten der NS-Opfer im Rahmen des so genannten Opferfürsorgegesetzes
erhoben.
Der Finanz- und Ausgleichsvertrag mit
der Bundesrepublik Deutschland von Bad Kreuznach
Die Umsetzung dieser Forderungen junktimierte die österreichische Bundesregierung
allerdings mit einem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit der Bundesrepublik
Deutschland, die eine Zuzahlung der BRD zu österreichischen Maßnahmen
für NS-Opfer sowie zu Maßnahmen für so genannte "Heimatvertriebene"
("Volksdeutsche") zum Ziele hatten. Nachdem die BRD sich anfangs
geweigert hatte, auch für österreichische NS-Opfer finanzielle Verantwortung
zu übernehmen, konnte sie nach Aufnahme von Gesprächen zur Entschädigung
auch italienischer NS-Opfer solche mit Österreich nicht mehr verweigern.
Im November 1961 kam es zur Unterzeichnung des Finanz- und Ausgleichsvertrags
von Bad Kreuznach, der gleichzeitig einen Schlusspunkt unter langwierige österreichisch-deutsche
Vermögensverhandlungen zur Bereinigung der Folgen der NS-Zeit darstellte.
Neben der deutlichen Erweiterung der Opferfürsorgegesetzgebung wurden
schließlich auch die in einem Notenwechsel mit den Westalliierten im
Frühjahr 1959 vereinbarten weiteren Entschädigungsmaßnahmen
in Kraft gesetzt: der Abgeltungsfonds zur Entschädigung für die
Leistung von Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe, eingezogener
Bankkonten, Wertpapiere, Bargeld; weiters eine Entschädigung für
Berufs- und Ausbildungsschäden ehemaliger ÖsterreicherInnen durch
den neuen Hilfsfonds sowie Pensionsnachzahlungen für die Jahre 1938-1945
und weitergehende Pensionsregelungen für ehemals Verfolgte. Damit schien
für Politiker, aber auch Opferverbände die Geschichte der fälschlich
so bezeichneten "Wiedergutmachung" beendet zu sein, also auch dieser
Bereich der Kriegsfolgen wurde für erledigt erachtet. Nahum Goldmann,
der Vorsitzende der Jewish Claims Conference und des Committee for Jewish
Claims on Austria, gab eine – heute heftig umstrittene – Entfertigungserklärung
ab, in der er alle jüdischen Forderungen für erfüllt erklärte.
Erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre kam es hier zu neuen Initiativen
der Opferverbände und in den neunziger Jahren trat die Frage der Entschädigung
von NS-Unrecht aus verschiedensten Gründen nochmals auf die internationale
Tagesordnung.
Die Rolle der Südtirol-Propaganda
für die Neuformierung des Rechtsextremismus
Zeichnete sich auf mehreren Ebenen in den sechziger Jahren ein erster Abschluss
der unmittelbaren Nachkriegszeit ab, erlebte der österreichische Rechtsextremismus
insbesondere an den Universitäten einen letzten Höhepunkt, bevor
er im nächsten Jahrzehnt einen erfreulichen Bedeutungsverlust hinzunehmen
hatte. Bereits 1959 war die österreichische Öffentlichkeit bei den
so genannten "Schillerfeiern" auf das breite Spektrum der wieder
bzw. neu erstandenen rechtsextremen und neonazistischen Organisationen, besonders
unter Jugendlichen, mit Erschrecken aufmerksam geworden.
Die Krise um die Autonomie Südtirols, die im selben Jahr internationalisiert
worden war, benutzten Rechtsextreme um Norbert Burger, mehrheitlich Angehörige
deutschnationaler "schlagender" Burschenschaften dazu, mittels terroristischer
Anschläge, die den Verlust von Menschenleben und beträchtlichen
Sachschaden nach sich zogen, auf die angeblich unterdrückte deutschsprachige
Bevölkerung Südtirols aufmerksam zu machen. Das Thema Südtirol
blieb in den folgenden Jahren ein zentraler Aspekt rechtsextremer Propaganda
in Österreich.
Der Skandal um Taras Borodajkewycz und
der Tod Ernst Kirchwegers
An den Universitäten fanden Burschenschafter, mehrheitlich im Ring Freiheitlicher
Studenten politisch organisiert, eine breite Anhängerschaft. Sie konnten
in der ersten Hälfte der sechziger Jahre beinahe ein Drittel der Stimmen
bei Hochschülerschaftswahlen für sich gewinnen. 1962 machen sozialistische
Studenten – der heutige Bundespräsident Heinz Fischer sowie der ehemalige
Finanzminister Ferdinand Lacina – auf den antisemitischen Charakter der Vorlesungen
der Professors an der damaligen Hochschule für Welthandel Taras Borodajkewycz
aufmerksam. Die folgende Affäre kann daher nicht nur als letztes Aufbäumen
des Rechtsextremismus an den Hochschulen, sondern auch als erste nachdrückliche
antifaschistische studentische Aktivität interpretiert werden, einige
Jahre noch vor den Pariser Studentenunruhen von 1968.
Doch erst 1965 eskalierte die Affäre, als Borodajkewycz vor laufenden
Fernsehkameras seinem Antisemitismus unter dem johlenden Beifall seiner Anhänger
Ausdruck verlieh. Gegen eine von der Österreichischen Widerstandsbewegung
organisierte Kundgebung formierte sich eine Gegendemonstration, die mit Rufen
wie "Hoch Auschwitz" provozierte. Im Zuge der Auseinandersetzungen
wurde der Anhänger der Widerstandsbewegung, Ernst Kirchweger, von einem
rechtsextremen Buschenschafter tödlich verletzt.
Das Begräbnis Kirchwegers gestaltete sich zu einer Kundgebung auch der
Bundesregierung gegen den militanten Rechtsextremismus. Die ein Jahr später
erfolgte Gründung der neonazistischen Nationaldemokratischen Partei durch
den führenden Südtirol-Aktivisten Norbert Burger erwies sich bereits
als politisch erfolglos und konnte bei Wahlen keine nennenswerte Anzahl von
Stimmen für sich gewinnen, außer dann unter besonderen Konstellationen
bei der Bundespräsidentenwahl 1980 (3,2 %). Der Niedergang des Rechtsextremismus
hatte bereits begonnen.
Neuorientierung der Geschichtspolitik:
Drimmel-Kommission, Gründung von IfZ und DÖW
Zur selben Zeit war eine "Neuorientierung der Geschichtspolitik"
(Heidemarie Uhl) zu verzeichnen. Dominierten in den fünfziger Jahren
die Veteranenverbände die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, trat Anfang
der sechziger Jahre das Interesse an einer anderen, nunmehr wissenschaftlichen
Interpretation der Zeitgeschichte in den Vordergrund. 1962 konstituierte sich
die Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte bzw. das österreichische
Institut für Zeitgeschichte in Wien.
1963 beauftragten Justizminister Christian Broda und Unterrichtsminister Heinrich
Drimmel die Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte unter
Leitung von Ludwig Jedlicka damit, eine Dokumentation über den österreichischen
Widerstand zu erstelle. Mitarbeiter waren dabei unter anderen der spätere
Universitätsprofessor für Zeitgeschichte an der Universität
Linz Karl R. Stadler und Herbert Steiner. Die Arbeiten mussten allerdings
aufgrund des Wegfalls der Finanzierung 1966 eingestellt werden.
Im selben Jahr fand dann mit der Errichtung des Instituts für Zeitgeschichte
an der Universität Wien, dessen erster Leiter, Univ. Prof. Dr. Ludwig
Jedlicka, auch zu den Mitbegründern des DÖW zählte, zeitgeschichtliche
Forschung Eingang in den universitären Wissenschaftsbetrieb.
1963 gründeten ehemalige WiderstandskämpferInnen und Verfolgte um
Herbert Steiner gemeinsam mit Wissenschaftern das Dokumentationsarchiv des
österreichischen Widerstandes, das – ungeachtet seines Namens – nicht
nur den Widerstand gegen das NS-Regime dokumentierte, sondern 1966/67 in Zusammenarbeit
mit dem Europa-Verlag auch die ersten österreichischen Arbeiten zur Verfolgung
der Jüdinnen und Juden sowie der Roma und Sinti publizierte.
Das erste staatliche Widerstandskämpferdenkmal
1965 wurde am 20. Jahrestag der österreichischen Unabhängigkeitserklärung
im Äußerem Burgtor der Wiener Hofburg der Weiheraum für den
österreichischen Freiheitskampf feierlich eröffnet, "das erste
staatliche, von der Republik Österreich errichtete Widerstandskämpferdenkmal"
(Heidemarie Uhl). Diese Berufung auf den Widerstand durch die öffentliche
Erinnerung, die aus heutiger Sicht als "Teil einer Verdrängungsstrategie"
des offiziellen Österreich erscheint, stellte in den sechziger Jahren
ein kritisches, gegen die Geschichtsauffassung der Kameradschaftsverbände
und der Wehrmachtstradition gerichtetes Konzept dar.
Die junge Zeitgeschichte – dem Institut in Wien folgte bald auch ein
Institute in Salzburg – widmete sich neben der Geschichte der Arbeiterbewegung
vor allem jener des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, der nunmehr,
20 Jahre nach Ende des Krieges, zur Identifikation des neuen Österreich
herangezogen wurde. 1945 waren ähnliche Bestrebungen – die Verankerung
der WiderstandskämpferInnen als die wahren ÖsterreicherInnen im
öffentlichen Bewusstsein – noch kläglich gescheitert.
Am Ende der sechziger Jahre hatten alle die genannten Widersprüche und
Ambivalenzen zu neuer Qualität geführt, die dann die siebziger Jahre
prägte und wohl erst die Alleinregierungen Kreisky ermöglicht hatte.
Referat von Brigitte Bailer, wiss. Leiterin des DÖW, auf dem Symposion
"Die Auschwitzprozesse von Frankfurt und Wien als Auseinandersetzung
mit den NS-Verbrechen in Deutschland und Österreich" aus Anlass
des 10. Todestages von Hermann Langbein, IWK, 8.10.2005