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Die bis 2007 gültige Regelung der Einsichtnahme in einen Gerichsakt in der Strafprozeßordnung (StPO)


§ 82
Der Beurteilung der Gerichte ist es überlassen, ob es zulässig erscheine, einer Partei oder ihrem ausgewiesenen Vertreter auch außer den in dieser Strafprozeßordnung insbesondere bezeichneten Fällen die Einsicht in strafgerichtliche Akten oder die Ausfolgung von Abschriften aus solchen zu bewilligen, sofern diese Personen glaubwürdig dartun, daß sie ihnen zur Ausführung eines Entschädigungsanspruches oder zum Zwecke des Begehrens um Wiederaufnahme oder aus anderen Gründen notwendig sei.
Die wissenschaftliche Forschung zählt zu diesen »anderen Gründen«

§ 82a
Zum Zweck der nicht personenbezogenen Auswertung für wissenschaftliche Arbeiten oder vergleichbare, im öffentlichen Interesse liegende Untersuchungen können das Bundesministerium für Justiz und die Vorsteher der Gerichte auf Ersuchen der Leiter anerkannter wissenschaftlicher Einrichtungen die Einsicht in strafgerichtliche Akten, die Herstellung von Abschriften (Ablichtungen) und die Übermittlung von Daten aus solchen bewilligen.

Über mögliche zivil- und strafrechtliche Konsequenzen bei der mißbräuchlichen Verwendung von Strafakten schreibt der Grazer Rechtshistoriker Martin F. Polaschek (»Rechtliche Fragen im Umgang mit Gerichtsakten als historischer Quelle«, in: Claudia Kuretsidis-Haider/Winfried R. Garscha [Hrsg.], Keine »Abrechnung«. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Leipzig-Wien 1998, S. 285–302) u.a.:

Eine strafrechtliche Verfolgung wäre allenfalls nach § 113 StGB, der den »Vorwurf einer schon abgetanen gerichtlich strafbaren Handlung« inkriminiert, denkbar:
Wer einem anderen in einer für einen Dritten wahrnehmbaren Weise eine strafbare Handlung vorwirft, für die die Strafe schon vollzogen oder wenn auch nur bedingt nachgesehen oder nachgelassen oder für die der Ausspruch der Strafe vorläufig aufgeschoben worden ist, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu bestrafen.

Kann nun in einem wissenschaftlichen Artikel, der über einen Strafprozeß berichtet, ein solcher Vorwurf gesehen werden? Der Schutzzweck dieser Bestimmung ist neben dem Resozialisierungserfolg, der hier nicht von Bedeutung sein wird, auch der Schutz des Ansehens des Betroffenen. Die oben angesprochene »Unbeabsichtigkeit« kann nicht als Entschuldigungsgrund angesehen werden, da der Vorsatzbegriff des StGB auch dann zum Tragen kommt, wenn der Täter eine Verwirklichung der Tat »ernstlich für möglich hält und sich mit ihr abfindet« (§ 6 Abs. 1 StGB). Die besonderen Bewilligungen, die insbesondere auf den Persönlichkeitsschutz Bezug nehmen, werden hier einschlägig sein: Das Bewußtsein der ausnahmsweisen Einschränkung des Datenschutzes nach § 82a StPO zwingt zu erhöhter Behutsamkeit im Umgang mit den anvertrauten Informationen. Zudem ist für den § 113 StGB kein eigener animus iniuriandi (Beleidigungsvorsatz) notwendig.

Da sich § 113 nur auf rechtskräftig Verurteilte bezieht, kommt für solche Personen, die freigesprochen oder nicht einmal angeklagt wurden, der Tatbestand der »üblen Nachrede« nach § 111 StGB zum Tragen:
»(1) Wer einen anderen in einer für einen Dritten wahrnehmbaren Weise einer verächtlichen Eigenschaft oder Gesinnung zeiht oder eines unehrenhaften Verhaltens oder eines gegen die guten Sitten verstoßenden Verhaltens beschuldigt, das geeignet ist, ihn in der öffentlichen Meinung verächtlich zu machen oder herabzusetzen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
(2) Wer die Tat in einem Druckwerk, im Rundfunk oder sonst auf eine Weise begeht, wodurch die üble Nachrede einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
(3) Der Täter ist nicht zu bestrafen, wenn die Behauptung als wahr erwiesen wird. Im Fall des Abs. 1 ist der Täter auch dann nicht zu bestrafen, wenn Umstände erwiesen werden, aus denen sich für den Täter hinreichende Gründe ergeben haben, die Behauptung für wahr zu halten.«
Dieses Delikt kann insbesondere bei der Auseinandersetzung mit in NS-Prozesse verwickelten Personen in Betracht kommen, da der Vorwurf einer nationalsozialistischen Gesinnung als »erheblicher Charaktermangel« bzw. »unehrenhaftes Verhalten« im Sinne dieser Norm gedeutet werden könnte.

Ein Schutz wissenschaftlicher Arbeiten vor dem Vorwurf einer strafbaren Handlung gem. § 111 oder § 113 StGB ergibt sich aber aus § 114 Abs. 1, wonach eine solche Handlung unter anderem dann gerechtfertigt ist, wenn dadurch ein Recht ausgeübt wird:
(1) Wird durch eine im § 111 oder § 113 genannte Handlung eine Rechtspflicht erfüllt oder ein Recht ausgeübt, so ist die Tat gerechtfertigt.
(2) Wer durch besondere Umstände genötigt ist, eine dem § 111 oder dem § 113 entsprechende Behauptung in der Form oder auf die Weise vorzubringen, wie es geschieht, ist nicht zu bestrafen, es sei denn, daß die Behauptung unrichtig ist und der Täter sich dessen bei Aufwendung der nötigen Sorgfalt (§ 6) hätte bewußt sein können.

Ein solches »Recht« ist auch das verfassungsgesetzlich gewährleistete Grundrecht der Freiheit von Forschung und Lehre (Art. 17 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867). Die Grenzen der Ausübung dieses Rechtes hat der Oberste Gerichtshof in einem Erkenntnis vom Oktober 1980 explizit festgehalten:
Anspruch auf das verfassungsgesetzlich garantierte Recht auf Freiheit der Forschung und der Lehre kann allerdings nur eine wahrhaftige, ehrlichem wissenschaftlichen Streben entspringende und auch nach objektiven Gesichtspunkten wissenschaftliche Forschungs- und Lehrtätigkeit erheben. Würde ein angeblicher, ein vermeintlicher oder selbst ein an sich gegebener wissenschaftlicher Charakter einer Arbeit bloß als Vorwand für verbotswidrige und durch eine wissenschaftliche Zielsetzung nicht gerechtfertigte Äußerungen dienen, so unterlägen diese den durch die Strafgesetze gezogenen Schranken.

Solange also eine rein wissenschaftliche, kritisch-distanzierte Verwendung der »wahren« Prozeßakten erfolgt (»objektiv wissenschaftlicher Charakter der Betätigung«, »subjektiv wissenschaftliches Streben des Verfassers«), wird meiner Ansicht nach eine Verletzung der Ehre bzw. das Vorwerfen einer strafbaren Handlung entweder nicht dem Tatbild der §§ 111 bzw. 113 entsprechen oder seine Rechtfertigung in der Freiheit der Forschung und Lehre nach § 114 Abs. 1 StGB finden. (Vgl. dazu etwa Diethelm Kienapfel, Grundriß des österreichischen Strafrechts. Besonderer Teil Band I (Delikte gegen Personenwerte), 3. Aufl., Wien 1990, S. 324: »Kritik zu üben, ist kein Sakrileg. Wer Leistungen, Entscheidungen und Erklärungen anderer [...] einer sachlichen Kritik unterzieht, braucht das Strafrecht nicht zu fürchten. Daß sich der Kritisierte irritiert oder verletzt fühlt, ist unmaßgeblich. Es fehlt schon an der Tatbildmäßigkeit [...] Eine in der Bundesrepublik stark vordringende, in der österreichischen Judikatur schon jetzt überwiegende Auffassung geht noch einen Schritt weiter und hält mit Recht auch das zwar ehrenrührige, aber den unbestrittenen Tatsachen entsprechende Werturteil für nicht tatbildmäßig.«)
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß die §§ 111 und 113 Privatanklagedelikte sind. Eine gerichtliche Verfolgung liegt im freien Ermessen des Verletzten und erfolgt nur auf dessen Antrag. Ist der Betroffene bereits verstorben, sind der Ehegatte, die Verwandten in gerader Linie und die Geschwister verfolgungsberechtigt.



Aus: Martin F. Polaschek: Rechtliche Fragen im Umgang mit Gerichtsakten als historischer Quelle (1998)


Achtung!
Neuregelung durch Straf- prozessord- nung 2008:
§ 77 StPO