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Eine kleine »Gebrauchsanleitung« für den Zugang zu Gerichtsakten



Gerichtsakten stellen eine in mehrfacher Hinsicht besondere Quellengattung dar. Sowohl Zugang als auch Bewertung der Materialien stehen in engem Zusammenhang mit dem – HistorikerInnen zumeist wenig vertrauten – Prozess-, ins- besondere Strafprozessrecht. Im Folgenden werden unter Gerichtsakten all jene Akten verstanden, die im weiteren Rahmen eines Strafverfahrens produziert und gesammelt worden sind. Dazu zählen neben dem Urteil und der Anklageschrift etwa Akten der Staatsanwaltschaft, der Sicherheitsbehörden usw., aber auch »gerichtsfremde« Materialien, wie private Aufzeichnungen der Angeklagten beziehungsweise Verurteilten, die mit dem Prozess zusammenhängen. All diesen Dokumenten ist eines gemeinsam: Sie befinden sich in der Verfügungsgewalt von Strafgerichten und unterliegen deshalb besonderen Regelungen, die sich von den Benützerordnungen der Archive unterscheiden.

Von vorrangigem Interesse sind hier die sogenannten »Vr-Akten«, also jene über gerichtlich strafbare Handlungen, die den Gerichtshöfen erster Instanz – den Landes- und früheren Kreisgerichten – oder den Geschworenengerichten zur Aburteilung zugewiesen worden waren. Die bei den Bezirksgerichten eingebrachten Anzeigen von Verbrechen und Vergehen werden unter »Z« geführt, Übertretungen (nach dem alten StG) unter »U«. Verfahren bei den Gerichtshöfen erster Instanz finden sich, wie bereits erwähnt, unter der Bezeichnung »Vr« sowie unter den Kürzeln »Hv« und »Ur« für die anhängigen Strafsachen, »Bl« verweist auf Rechtsmittel in Strafsachen. Beiden Gerichts- typen gemein sind die Aktengruppen »Jv« (Justizverwaltung), »Pers« (Personalakten) sowie »Ns«, die alle Akten enthalten, die in kein anderes Register passen . Dazu kommen außerdem verschiedene Register, insbesondere das »Vr«- und »Hv-Register«.

Die Einsicht in Gerichtsakten – darunter fallen alle jene, die jünger als 30 bzw. 50 Jahre sind, ältere, dauernd aufzube- wahrende Akten auch, solange sie beim Gericht liegen – kann nun auf zwei Arten erreicht werden, nämlich nach § 82a beziehungsweise § 82 StPO. Die hier dargestellten Regeln für die Einsichtnahme in Gerichtsakten beziehen sich auf jene Prozessunterlagen, die der Verfügungsmacht des Gerichtes unterliegen, unabhängig vom Aufbewahrungsort . Nach dem Ablauf der Frist fallen die Gerichtsakten, die sich bereits in den Landesarchiven befinden, bzw. jene, die erst nach dem Fristablauf den Archiven übergeben werden, in die Regelung der jeweiligen Benützerordnungen bzw. zum Teil künftig des Bundesarchivgesetzes .

§ 82a wurde erst durch das Strafprozessänderungsgesetz 1993 in die StPO eingefügt und besagt, dass »zum Zweck der nicht personenbezogenen Auswertung für wissenschaft- liche Arbeiten oder vergleichbare, im öffentlichen Interesse liegende Untersuchungen das Bundesministerium für Justiz und die Vorsteher der Gerichte auf Ersuchen der Leiter anerkannter wissenschaftlicher Einrichtungen die Einsicht in strafgerichtliche Akten, die Herstellung von Abschriften (Ablichtungen) und die Übermittlung von Daten aus solchen bewilligen« können.

Anzusuchen ist, abhängig von der Reichweite des Themas, beim Bundesministerium für Justiz oder beim zuständigen Gerichtsvorsteher (in den meisten Fällen dem Präsidenten eines Landesgerichtes). Dazu genügt ein formloses Schreiben, in dem jedoch ausdrücklich auf die Bestimmung des § 82a StPO hingewiesen werden sollte. Die Entschei- dung über die Erteilung der Genehmigung ist eine Angelegenheit der Justizverwaltung und nicht der Recht- sprechung. Die Erledigung kann daher rasch und formlos erfolgen. Eine allfällige Ablehnung wäre, da eine Angelegenheit der Verwaltung, bei der nächsthöheren Instanz anfechtbar .

Die Bewilligung erfolgt »auf Ersuchen der Leiter anerkannter wissenschaftlicher Einrichtungen«. Zu letzteren zählen neben den Universitäten auch andere Forschungs- institutionen, wie etwa das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes; die Praxis hat allerdings gezeigt, dass auch ausgewiesene Forscherinnen und Forscher, die diese Voraussetzung nicht selbst erfüllen, ansuchen können. Die Genehmigung erfolgt »auf Ersuchen« dieser Personen, und nicht (nur) für sie, die Einsichtnahme wird somit nicht auf diese Personengruppe beschränkt. Dieses »Ersuchen« wird vielmehr die Absicht verfolgen, die Einsichtnahme nur auf tatsächlich einen wissenschaftlichen Zweck Verfolgende (wie auch DissertantInnen oder DiplomandInnen) zu beschränken, für die der besagte »Leiter« gleichsam »bürgt« .


Von großer Wichtigkeit ist die Frage, was unter dem »Zweck der nicht personenbezogenen Auswertung« zu verstehen ist. Die Einsichtnahmegenehmigung nach § 82a StPO be- deutet nämlich eine Einengung des Daten- bzw. Persönlich- keitsschutzes, da die Daten an einen Dritten weitergegeben werden. Dieser darf sie aber seinerseits nur dermaßen auswerten, dass keine Individualisierung möglich ist; sie unterliegen also gleichsam einer »Verschwiegenheit« der Einsichtnehmerin / des Einsichtnehmers .

Diese Beschränkung der Einsichtnahme hängt mit dem Grundrecht auf Datenschutz zusammen . Jeder Mensch hat Anspruch auf Geheimhaltung der ihn / sie betreffenden personenbezogenen Daten, Beschränkungen im Falle anderer berechtigter Interessen sind allerdings zulässig. Die Schwierigkeit liegt in der genauen Definierung der Reichweite des Geheimhaltungsinteresses des / der Betroffenen. In den Schutzbereich fällt nicht erst eine Beeinträchtigung der Ehre, sondern grundsätzlich jede das Privatleben beeinträchti- gende Indiskretion, die auch das Ansehen nicht berührende Veröffentlichungen mit einschließt.
Dem Interesse des Betroffenen / der Betroffenen auf Schutz der persönlichen (»personenbezogenen«) Daten steht nach § 82a StPO jenes der Wissenschaft und/oder der Öffent- lichkeit entgegen. Wir bewegen uns hier in einem besonders sensiblen Randbereich, da Berichte über Strafprozesse – historische genauso wie aktuelle – stärker als andere Bereiche das Privatleben der Menschen (und insbesondere deren Schwächen und Verfehlungen) in das Licht der Öffentlichkeit rücken. Nur selten stehen in historischen Quellen Persönlichkeitsrechte und öffentliches Interesse so eng nebeneinander wie in Strafverfahren. Wenn auch die Bestrafung »der Tat« im Vordergund steht, kann diese nur unter Berücksichtigung der Motive, der Charaktereigen- schaften, des sozialen Umfeldes usw. des Täters / der Täterin erfolgen.

Der Datenschutz bezieht sich auf sämtliche »personen- bezogenen« Daten. Darunter fallen alle Informationen, die sich auf den Betroffenen / die Betroffene als Individuum beziehen, wie etwa Adresse, Geburtsdatum, Religion, Geschlecht, Lebensgewohnheiten, Ausbildung usw., aber auch Werturteile und bloße Vermutungen . Wie weit eine Person aufgrund welcher Daten bestimmbar ist, ist von Fall zu Fall verschieden; je »prominenter« die Person und je bedeutender der Anlassfall, desto leichter wird eine Bestimmung erfolgen. In unserem konkreten Fall bezieht sich das auf die Möglichkeit, auf Grund sonstiger frei zugänglicher Quellen, wie etwa Zeitungen, persönliche Daten des Betroffenen zu erlangen. Der Schutz von Daten reicht nämlich nur soweit, als diese nicht über einen »begrenzten Personenkreis« hinaus allgemein eruierbar sind.

§ 82a StPO gewährt uns nun durchaus die Einsichtnahme in »personenbezogene Daten«. Die Schwierigkeit liegt darin, bei deren Auswertung im Rahmen der gesetzlichen Vorgabe zu bleiben. Verboten wird nämlich nicht die »personenbezogene Auswertung« an sich, sondern schon die Einsichtnahme »zum Zweck«!

Um das Feld genauer zu umreißen, sei beispielhaft angeführt, welche Arbeiten jedenfalls durch die Einsicht- nahmegenehmigung nach § 82a gedeckt werden: Statistische Auswertungen, die keine Namen nennen, fallen ebenso darunter wie umfassende Darstellungen, die zwar Namen nennen, jene aber bereits »allgemein bekannt« bzw. »allgemein erfahrbar« sind. Darüber hinaus gehende »persönli- che« Daten, die nur aus den Akten erfahrbar sind, dürfen nicht verwendet werden. Im Gegensatz dazu würde die eingehende Darstellung eines einzelnen Prozesses, bei dem zwar die Namen der Beteiligten nicht genannt werden, aufgrund sonstiger »allgemeiner Daten« aber erfahrbar sind, dem Schutzzweck widersprechen. Die detaillierte Beschrei- bung eines Verfahrens von der ersten Verfolgungshandlung der Sicherheitsbehörden bis zur Begnadigung durch den Bundespräsidenten erfolgt genauso »zum Zweck der personenbezogen Auswertung«. Andererseits kann die alleinige Nennung von Namen nicht mit einer »personenbe- zogenen Auswertung« gem. § 82a gleichgesetzt werden. Es geht bei dieser Vorschrift um Untersuchungen, welche sich auf einen oder einige wenige bestimmbare Täter beziehen, und diese als Persönlichkeit über ihre Rolle als Strafttäter hinaus anschaulich machen.

Bis zur Einführung des § 82a StPO war eine Einsichtnahme in Gerichtsakten nur aufgrund einer großzügigen Interpretation des § 82 möglich. Aus dieser Bestimmung lässt sich eine Gewährung der Einsicht in Prozessakten nicht nur für die Prozessparteien, sondern für »jedermann, der ein rechtliches Interesse an der Akteneinsicht glaubhaft machen kann«, ableiten. Obwohl seit der Ermöglichung der Einsichtnahme nach § 82a StPO diese Hilfskonstruktion ihre allgemeine Bedeutung verloren hat, kann sie in Ausnahmefällen doch von Nutzen sein: Während sich die Einsichtnahme nach § 82a nämlich auf den »Zweck der nicht personenbezogenen Auswertung« beschränkt, lässt sich eine solche Einschrän- kung in Bezug auf § 82 nicht erkennen. In Ausnahmefällen kann also auch diese Norm weiterhin von Nutzen sein, nämlich dann, wenn eine personenbezogene Auswertung erfolgen soll. Nachdem die meisten Forschungs- vorhaben unter den Anwendungsbereich des § 82a StPO fallen (und insoweit der § 82 nicht mehr zum Tragen kommt), wird hierzu jedoch eine besondere Begründung notwendig sein.

Eine Bewilligung zur Einsichtnahme nach § 82 unterliegt al- lerdings einigen Schwierigkeiten. Anders als die Genehmi- gung nach § 82a ist nämlich jene eine Angelegenheit der Rechtsprechung und nicht der Justizverwaltung. Der zuständige Richter / die zuständige Richterin (und nicht generell der / die GerichtsvorsteherIn bzw. das Bundes- ministerium für Justiz) entscheidet mit richterlichem Beschluss. Ein solcher erfolgt nach freiem richterlichen Ermessen und unterliegt den durch die Strafprozessordnung vorgesehenen Rechtsmitteln: Gegen entsprechende (ablehnende) Beschlüsse des Bezirksgerichtes steht die Beschwerde beim Gerichtshof erster Instanz offen; bei Beschlüssen des Landesgerichtes – die in erster Linie in Betracht kommen werden – besteht allerdings keine Möglichkeit, ein Rechtsmittel zu ergreifen.

Will man eine solche Bewilligung erwirken, wird es ratsam sein, diese ausführlich zu begründen. Zudem sollte ausdrücklich auf die erbetene Bewilligung der Einsichtnahme nach § 82 StPO, und nicht nach § 82a hingewiesen werden. Eine Beifügung, dass auch die Herstellung von Kopien genehmigt werden soll, ist ratsam, da es ansonsten Schwierigkeiten geben kann (im Gegensatz zu § 82a ist die Herstellung von Ablichtungen nämlich nicht ausdrücklich erwähnt). Ein Ersuchen nach § 82 ist zwar nicht auf bestimmte Personen bzw. Forschungseinrichtungen beschränkt, es wird allerdings auch hier, insbesondere für DiplomandInnen und DissertantInnen, eine Berufung auf den wissenschaftlichen Charakter der begehrten Auswertung von Vorteil sein.


Univ.Prof. Mag. Dr. Martin F. Polaschek, Assistenzprofessor am Institut für europäische und vergleichende Rechtsgeschichte der Karl-Franzens-Universität, ist seit Oktober 2003 Vizerektor für Studium, Lehre und Personalentwicklung und Erster Stell- vertreter des Rektors an der Universität Graz.

Von Martin F. Polaschek





Erschienen im Dezember 1999 in:
"Justiz und Erin- nerung" Nr. 2

(aktualisiert August 2010)


































Die hier genann- ten §§ 82 und 82a StPO entsprechen dem § 77 (in Verbindung mit § 54) der seit 1. 1. 2008 gültigen neuen österrei- chischen Straf- prozessordnung.
Eine Erläuterung zu den aus dem Strafrechts- änderungsgesetz 2006 resultierenden Änderungen der Regelung für die Einsichtnahme in Strafgerichts- akten finden Sie hier