DDR-Justiz und NS-Verbrechen
In der Reihe "Justiz und NS-Verbrechen" (im Internet:
www.jur.uva.nl/junsv)
– der Sammlung westdeutscher Gerichtsentscheidungen (Urteile, Beschlüsse
über Verfahrenseinstellung) wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen
1945–1999 – sind bis jetzt (2002) 26 Bände erschienen.
Nunmehr liegt der erste Band mit Urteilen der DDR-Gerichte vor, außerdem
hat das Team um dem Amsterdamer Straf-rechtler Prof. Dr. Christiaan Frederik
Rüter in diesen Tagen das Gesamtregister
der DDR-Verfahren wegen NS-Tötungs- verbrechen
als Buch herausgebracht, nachdem es bereits seit einigen Monaten im Internet
abfragbar war.
Das Buch "DDR-Justiz und NS-Verbrechen / Verfahrens- register und Dokumentenband"
enthält auch eine umfang- reiche Darstellung der Ahndung von NS- Verbrechen
in Ostdeutschland, verfasst vom ehemaligen DDR-Staatsanwalt Dr. Günther
Wieland, der von 1963 bis 1990 beim General- staatsanwalt der DDR mit der Ahndung
von NS-Verbrechen befasst war. Das Register umfasst Verfahrensbeschreibun- gen
(einschließlich etwaiger Rehabilitierungen nach 1990) und Urteilsauswertungen
sowohl für die 839 Gerichts- verfahren wegen Tötungsverbrechen zwischen
1945 und 1990 als auch für 88 der sogenannten Waldheimer Prozesse aus
dem Jahre 1950.
Die auf 10 Bände angelegte Reihe wird von Amsterdam University Press
gemeinsam mit dem Münchner K. G. Saur Verlag herausgegeben.
Da die ostdeutsche Edition umgekehrt chronologisch geordnet ist, umfasst Band
I der Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen
dreißig Verfahren der Jahre 1975 bis 1990.
Internationales Fachgespräch über
die Ahndung von NS-Verbrechen durch die DDR-Justiz
Aus Anlass der Publikation des Registers und des ersten Bandes der Urteilssammlung
veranstaltete die Stiftung Topographie
des Terrors in Zusammenarbeit mit der
Universität Amsterdam am 25. Oktober in Berlin – unter der Leitung
von Prof. Dr. Hubert Rottleutner (FU Berlin) – ein Fachgespräch
über die ostdeutschen Strafverfahren wegen NS-Tötungsverbrechen,
an dem fast vierzig JustistInnen und HistorikerInnen aus Deutschland, den
Niederlanden, Österreich und den USA teilnahmen, darunter Klaus Bästlein,
Norbert Frei, Henry Friedlander, Michael Greve, Klaus Marxen, Ingo Müller,
Kurt Pätzold, Joachim Perels, Reinhard Rürup und Hermann Wentker.
Zu den TeilnehmerInnen zählten auch ehemalige Richter, Mitarbeiter der
Generalstaatsanwaltschaft der DDR und der mit der Aufklärung von NS-Verbrechen
befassten Hauptabteilung IX/11 des Ministeriums für Staatssicherheit
sowie DDR-Rechtsanwälte.
C. F. Rüter stellte das Editionsprojekt vor und vergleicht die Ahndung
von NS-Verbrechen in den beiden deutschen Staaten, wobei er auch die Rechtsprechung
der DDR im Lichte der seit 1990 geführten Rehabilitierungsverfahren einschätzte.
Die ehemalige Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht
Frankfurt am Main, Ursula Solf analysierte die Ermittlungstätigkeit des
Ministeriums für Staatssicherheit, Günter Wieland (ehemaliger Sachbearbeiter
in der Generalstaatsanwalt- schaft der DDR) stellte in einzelnen Etappen der
Strafverfolgung in der DDR in einen justizgeschichtlichen Kontext.
Verblüffende Ähnlichkeiten
zwischen west- und ostdeutschen Verfahren
Am Beispiel mehrere Vergleich-Ebenen machte C. F. Rüter deutlich, in
welch überraschendem Ausmaß west- und ost-deutsche Strafverfahren
wegen NS-Verbrechen einander ähnelten, sowohl vom chronologischen Verlauf
als auch hinsichtlich der inhaltlichen und geographischen Schwerpunkte der
vor Gericht gebrachten NS-Verbrechen. Beträchtliche Unterschiede bestanden
hingegen einerseits im Strafausmaß, andererseits im angewandten Recht:
Ostdeutsche Gerichte stützten sich neben dem Reichs-Strafgesetzbuch auch
auf alliiertes Recht (westdeutsche Gerichte taten dies nur bis 1949), die
alliierten Rechts-vorschriften fanden auch Eingang in das DDR-Strafgesetz- buch
von 1968. Den gravierendsten Unterschied sieht Rüter darin, dass die
DDR-Justiz ähnlich agierte wie die Justiz jener Länder, die vom
Dritten Reich besetzt waren, was insbesondere im überragenden Anteil
von Verratsdelikten in den Prozessen der ersten anderthalb Nachkriegsjahrzehnte
(10 % in westdeutschen Verfahren, 57 % in ostdeutschen Verfahren) zum Ausdruck
kommt. Umgekehrt wurden im selben Zeitraum in Westdeutschland 49 % aller Prozesse
wegen Tötungsverbrechen wegen der Exzesse bei Kriegsende gegen die eigene
Bevölkerung geführt, in der DDR betrafen nur 11 % dieser Verfahren
"Endphase-Verbrechen".
Ein besondere Kapitel stellen die Waldheimer Prozesse des Jahres 1950 dar.
Die Lektüre der Urteile beweise – so Rüter – dass sich
diese Verfahren, die unzweifelhaft Rechts- beugung und Unrechtsjustiz darstellten,
grundlegend von den übrigen in der DDR geführten NS-Prozessen unterschieden.
Rehabilitierungsverfahren nach 1990:
Jeder sechste Verurteilte stellte einen Antrag
Interessant ist auch das Ergebnis der Rehabilitierungs-verfahren nach dem
Ende der DDR. 106 Anträge wurden eingebracht, davon 43 überhaupt
abgewiesen und in weiteren 33 Fällen nur hinsichtlich der Vermögenseinziehung
(die allerdings auch in anderen Staaten, z.B. in Österreich, gesetzlich
vorgesehen war) eine "Rechtsstaatswidrigkeit" des DDR-Urteils festgestellt.
Von den als teilweise rechtsstaatswidrig erkannten Urteilen wurden in 9 Fällen
die Strafen reduziert, in 2 Fällen wurde das Verfahren eingestellt, in
3 Fällen erfolgte ein Freispruch, in 3 weiteren Fällen bestätigte
das Rehabilitierungsverfahren trotz teilweise Rechtsstaatswidrigkeit die Höhe
der vom DDR-Gericht verhängten Strafe. Als voll rechtsstaatswidrig wurden
13 Urteile aufgehoben, davon allerdings drei mit – so Rüter –
juristisch nicht nachvollziehbaren Begründungen.
Zur Rolle des MfS
In der Diskussion kamen Aspekte der Tätigkeit der DDR-Staatsanwaltschaften,
besonders aber die Vorbereitung der Verfahren durch das Ministerium für
Staatssicherheit zur Sprache. Dieter Skiba informierte, dass 165 der vor DDR-Gerichten
verhandelten Verfahren wegen NS-Verbrechen, vom MfS vorbereitet wurden. Grundlage
hierfür war ein Ministerratsbefehl aus dem Jahre 1967, 1968 wurde dann
die Abteilung IX/11 gebildet. Ein Kennzeichen der DDR-Strafprozessordnung
war, dass der Beschuldigte erst nach seiner Versetzung in den Anklagestand
Anspruch auf Rechtsbeistand hatte; die Ermittlungen der Staatssicherheit wurden
großteils konspirativ geführt. Rechtsanwalt Friedrich Wolff berichtete
über seine Erfahrungen als Verteidiger in DDR-Prozessen. In Verfahren
der späten achtziger Jahre wurde der Kontakt zwischen Verteidiger und
Beschuldigtem auch vor der Anklageerhebung ermöglicht, so Wolff.
Umfangreiche Befragung von Holocaust-Überlebenden
durch DDR-Staatsanwälte
Diskussionsgegensrtand waren auch die west-ost-deutschen Justizkontakte sowie
der Streit um das DDR-Verfahren gegen den bundesdeutschen Minister Globke,
der als NS-Jurist die Zusatzbezeichnungen "Sara" und "Israel"
zur Kennzeichnung von Juden erfunden hatte. Günter Wieland berichtete,
dass in Vorbereitung dieses Verfahrens die 900 in der DDR wohnenden Holocaust-Überlebenden
befragt wurden, was zu einer beträchtlichen Ausweitung der Kenntnis über
jüdische Schicksale (und ihrer Wahrnehmung durch die DDR-Behörden)
führte. – Außerdem wurden neue Forschungsergebnisse sowohl
zur ostdeutschen Justiz (Christian Meyer-Seitz) als auch zur Entstehungsgeschichte
der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg erörtert.
Winfried Garscha zeigte Parallelen und Unterschiede zwischen österreichischen
Volksgerichtsverfahren und frühen DDR-Prozessen.
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