Der halbierte Prozess – Die Einstellung eines
Teils des Strafverfahrens gegen Franz Murer im Jahr 1955
Gekürzte Fassung des Vortrags von Gabriele Pöschl
Vom Strafverfahren gegen Franz Murer ist vor allem
jener skandalöse Freispruch[Anm1] im Gedächtnis haften geblieben,
der in den sechziger Jahren durch die Medien ging.
Zunächst einmal vorweg. Wer war Franz Murer?
Franz Murer, Landwirt – zur Zeit des nationalsozialistischen Gewaltregimes:
NSDAP Mitglied, "Ordensjunker" - von Sommer 1941 bis Sommer 1943
Stabsleiter und Referent des Gebietskommissariates Wilna-Stadt. So die offiziellen
Angaben aus der Anklageschrift[Anm2].
Bereits im Nürnberger Prozess berichtete ein Überlebender des Wilnaer
Ghettos über die Errichtung des Ghettos, die Erlassung schikanöser
Befehle sowie die Vernichtung der Juden des Wilnaer Ghettos und nannte den
Namen Franz Murer als einen der Hauptverantwortlichen[Anm3]
.
Nachdem Franz Murer 1947 eher zufällig von Simon Wiesenthal
aufgespürt[Anm4] worden war, wurde dieser verhaftet
und in das Gefangenhaus des Landesgerichtes für Strafsachen Graz eingeliefert.
Nach erteilter Zustimmung der ACS[Anm5] zur Verfolgung
Murers durch die österreichischen Gerichte wurde Ende August 1947 die
Voruntersuchung nach §§ 1,3 und 4 KVG und § 134 StG durch die
Staatsanwaltschaft Graz eingeleitet. Als Begründung wurde angeführt,
Franz Murer wäre Gebietskommissar der Stadt Wilna[Anm6]
gewesen und in dieser Funktion verantwortlich für die "Judenausrottungen"
und die schweren Misshandlungen von einheimischen Juden in Wilna gewesen.
Die Staatsanwaltschaft ermittelte damals insbesondere wegen der Beteiligung
Murers an den Massenerschießungen in Ponary, denen "Selektierungen"
Arbeitsunfähiger, Kinder oder alter Menschen vorausgegangen waren. Murer
wurde beispielsweise auch vorgeworfen, er wäre für die Ermordung
des gesamten Judenrates in Wilna, der die geforderte Kontribution von 5 Millionen
Rubel nicht fristgerecht leisten konnte, sowie die Ermordung einer berühmten
Sängerin, bei welcher er, anlässlich einer von ihm persönlich
durchgeführten Lebensmittelkontrolle am Ghettoeingang, Erbsen vorgefunden
hätte, verantwortlich.
Murer gab in seinen Einvernahmen an, mit dem Ghetto und den Judenangelegenheiten
niemals etwas zu tun gehabt zu haben. Er hätte sich weder an Misshandlungen
und schon gar nicht an der "Massenausrottung" der Juden in Ponary
beteiligt[Anm7].
In der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sollen in Wilna ca.
80.000 Juden ermordet worden sein[Anm8].
Die von der britischen Besatzungsmacht erteilte Verfolgungsermächtigung
wurde jedoch bereits im September 1947 zurückgezogen, Franz Murer befand
sich fortan für die alliierte Behörde in Haft und wurde schließlich
im März 1948 an die sowjetischen Behörden übergeben.
Aufgrund der Auslieferung Murers an die Sowjetunion erfolgte über Antrag
der Staatsanwaltschaft die vorläufige Einstellung des Volksgerichtsverfahrens
gem. § 412 StPO[Anm9].
Im September 1948 wurde Murer in Wilna/Vilnius vor ein Kriegstribunal
gestellt und schließlich vom litauischen Kriegstribunal u.a. wegen der
Errichtung des Ghettos in Wilna, der Verhöhnung und Misshandlung von
im Ghetto befindlichen Juden, sowie die persönliche Selektion von Juden,
die in Ponary erschossen wurden, wobei er über 5.000 Personen in den
Tod schickte, wegen der Erschießung von 2 Jüdinnen sowie der Schaffung
der unmenschlichen, sklavenähnlichen Bedingungen im Ghetto, zu 25 Jahren
Zwangsarbeit verurteilt. Die Todesstrafe war nur auf Grund einer Gesetzesänderung
nicht verhängt worden[Anm10]. Murer behauptete in
der späteren Hauptverhandlung in Graz jedoch, er wäre lediglich
wegen Entzuges von Lebensmitteln zu Gunsten der deutschen Wehrmacht und wegen
der Teilnahme an der Ghettobildung vom litauischen Kriegstribunal verurteilt
worden[Anm11] .
1955 wurde Franz Murer in Folge des Staatsvertrages[Anm12] den österreichischen
Behörden als Kriegsverbrecher übergeben[Anm13]. Nach Erlassung eines Ministerratsbeschlusses
wurde Murer nach seiner Rückkehr jedoch nicht mehr verhaftet[Anm14].
Der Staatsanwalt wäre aufgrund des Legalitätsprinzips[Anm15]
(der Pflicht des Staates wegen verübter Delikte von Amts wegen das Strafverfahren
einzuleiten), verpflichtet gewesen, Murer von Amts wegen zu verfolgen, denn
die Einleitung eines Strafverfahrens liegt – damals wie heute - nicht
im Ermessen des Staatsanwaltes, auch dieser muss sich an die gesetzlichen
Vorgaben halten[Anm16]. Eine Vollstreckung des litauischen
Urteils in Österreich war nicht möglich, da es das österreichische
Strafgesetz (§ 36 StG) untersagte, ausländische Urteile in Österreich
zu vollziehen.
Im Dezember 1955 erfolgte über Antrag der Staatsanwaltschaft
der Beschluss auf Einstellung des Strafverfahrens gegen Franz Murer.
Der Staatanwalt berief sich dabei auf § 34 Abs. 2 letzter Fall StPO und
führte zur Begründung seines Rücktritts von der Verfolgung
an, Murer hätte bereits einen großen Teil der über ihn im
Ausland verhängten Strafe verbüßt[Anm17]. Tatsächlich saß
er nicht einmal ein Drittel der über ihn vom litauischen Kriegstribunal
verhängten Strafe ab.
Mit der erfolgten Einstellung sollte der Fall Murer zu den abgelegten Akten
kommen.
Doch im Zuge des Eichmannprozesses entsann man sich auch in Österreich
– wohl unter internationalem Druck – wieder der Verfolgung von
Kriegsverbrechern.
Nachdem immer neue Zeugenaussagen gegen Franz Murer im Justizministerium eintrafen
stellte die Staatsanwaltschaft Graz schließlich im Mai 1961 den Antrag
auf Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 352 Abs 2 StPO im
Umfange des Verfahrens vor der Einstellung im Jahre 1955[Anm18]. Die Antragstellung
bezog sich jedoch nur mehr auf die Mordfälle, denen Franz Murer verdächtigt
war, da zum damaligen Zeitpunkt bereits alle anderen Delikte wie Misshandlungen,
Verletzungen der Menschenwürde entweder schon verjährt oder auf
Grund der Aufhebung des KVG[Anm19] durch die NS-Amnestie 1957 nicht mehr angeklagt
werden konnten.
Zunächst wurde dem Antrag der Staatanwaltschaft durch die Ratskammer
des Landesgerichtes für Strafsachen Graz im Mai 1961 stattgegeben. Nach
Erhebung der Beschwerde[Anm20] gegen diesen Beschluß
durch Franz Murer änderte das Oberlandesgericht Graz die Entscheidung
der Ratskammer mit der Begründung ab, dass weder eine formlose Verfahrensfortsetzung
noch eine formelle Wiederaufnahme zulässig wären, so dass der von
der Staatsanwaltschaft erklärte Rücktritt von der Verfolgung endgültig
wäre. Denn es sollte nicht der Laune des Staatsanwaltes überlassen
werden, sich nach einem Rücktritt von der Verfolgung wieder zu überlegen,
das inländische Gericht hätte vielleicht doch eine strengere Strafe
als das ausländische Gericht verhängt[Anm21].
Die Staatsanwaltschaft hatte aufgrund der erfolgten Einstellung nur mehr die
Möglichkeit, Franz Murer wegen jener Verbrechen anzuklagen, die der Staatsanwaltschaft
1955 noch nicht bekannt waren. So kam es, dass Franz Murer in den sechziger
Jahren lediglich wegen später bekannt gewordener Einzelfälle, die
allesamt die Ermordung von Juden aus Wilna betrafen, angeklagt[Anm22]
werden konnte.
Wie bereits erwähnt, wurde Franz Murer in diesem Verfahren von den Geschworenen
für nicht schuldig befunden und musste daher vom Gericht freigesprochen
werden.
Anmerkungen
Anm. 1
LGS Graz, Vr 1811/62 – 375.
Anm. 2
LGS Graz, Vr 1811/62 – 329.
Anm. 3
Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Militärgerichtshof.
Nürnberg 14.November 1945 – 1.Oktober 1946, Band VIII, Nürnberg
1947, 335ff.
Anm. 4
Anlässlich des Yom-Kippur-Festes, bei welchem jeder Frau eine Henne,
jedem Mann ein Hahn geschlachtet werden sollte waren 2 Männer im Jahre
1947 in der Steiermark auf der Suche nach einem Bauern, der ihnen Geflügel
gegen Schokolade und Konserven tauschen würde. Ein Mann machte sie auf
einen großen Hof aufmerksam, bemerkte jedoch, dass sie der Eigentümer
möglicherweise hinauswerfe, da er ein großer Judenhasser sei. Da
die Männer dachten, es handelte sich um Adolf Eichmann, verständigten
sie Simon Wiesenthal, der schließlich die Verhaftung Murers in die Wege
leitete. Siehe dazu Simon Wiesenthal, Doch die Mörder leben, München
– Zürich 1967, 77ff; Simon Wiesenthal, Ich jagte Eichmann. Tatsachenbericht,
Gütersloh 1961, 111f; Elisabeth Holzer, "Dann bliebe uns nach einem
solchen Urteil nichts als – Schuld und Scham". Das Strafverfahren
gegen Franz Murer und seine Rezeption durch die zeitgenössische Presse,
Phil. Dipl. Graz 2004, 33f; Marion Wisinger, Über den Umgang der österreichischen
Justiz mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Phil. Diss. Wien 1991,
112; Heimo Halbrainer – Thomas Karny, Geleugnete Verantwortung. Der
"Henker von Theresienstadt" vor Gericht, Grünbach 1996, 62f.
Anm. 5
Justizstelle der britischen Besatzungsbehörde.
Anm. 6
LGS Graz, Vr 1811/62 (Antrags- und Verfügungsbogen).
Anm. 7
Etwa LGS Graz, Vr 1811/62 -6, 119 oder 370.
Anm. 8
Siehe dazu Hans Safrian, Massenmord und Sklaveneinsatz. Nationalsozialistische
Besatzungspolitik in Wilna 1941 – 1943, in: Florian Freund – Franz
Ruttner – Hans Safrian (Hg.), Ess firt kejn weg zurik..., Wien 1992,
31.
Anm. 9
LGS Graz, Vr 1811/62 (Antrags- und Verfügungsbogen).
Anm. 10
LGS Graz, Vr 1811/62 (Urteil des litauischen Militärtribunals vom 25.9.1948-
ohne ON).
Anm. 11
LGS Graz, Vr 1811/62 – 370.
Anm. 12
Art 18 Z 1 Staatsvertrag, betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen
und demokratischen Österreich, BGBl 152/1955.
Anm. 13
LGS Graz, Vr 1811/62 (ohne ON).
Anm. 14
Wisinger (1991), 115.
Anm. 15
AA Wiesenthal, der der Meinung ist, Österreich hätte sich im Staatsvertrag
zur Aburteilung der zurückgekehrten Kriegsverbrecher verpflichtet. Siehe
dazu Wiesenthal (1976), 88.
In Art. 18 des Staatsvertrages wurde jedoch lediglich ausgehandelt, dass kriegsgefangene
Österreicher heimbefördert werden sollten und Österreich hierzu
die Kosten übernehmen musste.
Anm. 16
Ludwig F. Tlapek – Eugen Serini, Die österreichische Strafprozessordnung
in der Fassung der Kundmachung des Staatsamtes für Justiz vom 24.Juli
1945 und der seither erfolgten Änderungen und Ergänzungen samt den
wichtigsten Novellen und Nebengesetzen. Mit einer Einleitung und Erläuterungen
unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes,
3. Aufl., Wien 1959, § 34 Rz 1b; Ernst Lohsing – Eugen Serini,
Österreichisches Strafprozessrecht, 4. Aufl., Wien 1952, 53; Hermann
Roeder, System des österreichischen Strafverfahrensrechtes, Innsbruck
1951, 29f.
Anm. 17
LGS Graz, Vr 1811/62 (Antrags- und Verfügungsbogen).