Kriegsende in Österreich – Todesmärsche und
ihre gerichtliche Ahndung Impulsreferat von Susanne Uslu-Pauer
Ich möchte Sie begrüßen zu unserem Veranstaltungsabend,
der in Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2005 von besonderem Interesse ist;
dies deshalb, weil wir einen Forschungsbereich vorstellen, der im Bewusstsein
der Nachkriegsgenerationen kaum verankert ist.
Viele NS-Verbrechen sind heute aus dem Gedächtnis der österreichischen
Bevölkerung weitgehend ausgelöscht - und das, obwohl in ganz Österreich
von den Volksgerichten über 136.000 Vorerhebungen und Voruntersuchungen
eingeleitet und eigene gesetzliche Grundlagen zur Aburteilung der NS-Täter
geschaffen wurden.
Die Volksgerichte waren im Zeitraum von 1945 bis 1955 tätig. Im Jubiläumsjahr
2005 stellen genau diese beiden Eckdaten die Aushängeschilder des offiziellen
Gedenkens der Zweiten Republik dar: die beiden Jubiläen „60 Jahre
Zweite Republik“ und „50 Jahre Staatsvertrag“. Die Tätigkeit
der Nachkriegsjustiz fließt in die offiziellen Gedenkveranstaltungen
gar nicht ein, sofern überhaupt die Gräueltaten des Krieges angesprochen
werden.
Das Jubiläumsjahr oder Gedankenjahr umspannt einen großen thematischen
Bogen verschiedenster historischer Begebenheiten und Ereignisse. Es sind teilweise
Gedenkanlässe, die auch Fragen nach dem österreichischen Selbstverständnis
berühren. Sie sollen den Österreichern nicht nur ihre eigene Geschichte
und Identität vermitteln, sondern auch offiziell auf die Beständigkeit
und Kontinuität in diesem Land verweisen; dabei dürfen allerdings
die schmerzhaften Brüche und Erinnerungen in diesem Land nicht ausgeklammert
werden.
In meinem Beitrag geht es um die strafrechtliche Verfolgung der Endphaseverbrechen
in Österreich. Der Begriff Endphaseverbrechen umfasst jene NS-Tötungsdelikte,
die in den letzten Tagen des Dritten Reiches - also in der Endphase des Krieges
- begangen wurden. Ich spreche bewusst von Endphase, da das Kriegsende und
die Befreiung in Österreich zeitlich nicht genau festgelegt werden kann,
da die einzelnen Bundesländer - geographisch bedingt und abhängig
vom Vorrücken der alliierten Truppen - zeitlich versetzt befreit worden
sind.
Nun, besonders das Jubiläum 60 Jahre Zweite Republik, das offiziell mit
der Regierungserklärung der Provisorischen Regierung am 27. April 1945
gefeiert wird, hat für mich einen widersprüchlichen Beigeschmack.
In Wien wurde an diesem Tag in der Unabhängigkeitserklärung die
Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreichs verkündet.
In anderen Teilen Österreichs wurden genau zu diesem Zeitpunkt und auch
noch Tage danach zahlreiche Gewalt- und Tötungsverbrechen begangen. Vor
allem die Todesmärsche durch Österreich in den letzten Kriegswochen
stehen für das sinnlose Morden von tausenden von Menschen. Und nun eine
Frage: Gibt es dazu offizielle Gedenkfeiern? Mir sind lediglich Initiativen
von Vereinen und Privatpersonen, nicht aber von offizieller Seite dazu bekannt.
Der Begriff der so genannten Todesmärsche wurde von den Häftlingen
der Konzentrationslager geprägt und später von HistorikerInnen übernommen.
Er definiert die letzte Phase der nationalsozialistischen Vernichtungsstrategien,
in der Tausende von KZ-Häftlingen vor den heranrückenden Alliierten
auf tagelangen Fußmärschen, zum Teil in offenen Güterwaggons
und auf Schiffen Hunderte von Kilometern in das "Landesinnere" "evakuiert"
wurden.
Auf dieser Karte sind nicht alle Todesmärsche eingezeichnet. Sie soll
nur einen Einblick vermitteln von den gewaltigen Märschen, die vom Burgenland,
südlich und nördlich des Geschriebensteins bis nach Mauthausen bzw.
Gunskirchen zurückgelegt werden mussten.
In Österreich selbst wurden Ende März 1945 die
ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter aus den Lagern entlang des Südostwalls
an der heutigen ungarisch-österreichischen Grenze nach Mauthausen getrieben.
Anfang April begann die Evakuierung der Häftlinge aus den Nebenlagern
des KZ Mauthausen und der Arbeitslager im Raum Wien und Niederösterreich.
Ende April 1945 wurden Tausende Häftlinge aus dem KZ Dachau, die bereits
qualvolle Märsche aus anderen KZ hinter sich hatten, in Richtung Tirol
getrieben oder per Bahn transportiert.
Auf der Karte sind nicht alle Todesmärsche eingezeichnet. Sie soll nur
einen Einblick vermitteln von den gewaltigen Märschen, die vom Burgenland,
südlich und nördlich des Geschriebensteins bis nach Mauthausen bzw.
Gunskirchen zurückgelegt werden mussten.
Diese Tötungsverbrechen zu Kriegsende waren in der
unmittelbaren Nachkriegszeit Gegenstand zahlreicher Prozesse vor österreichischen
Volksgerichten; in der Steiermark wurden sie darüber hinaus auch vor
britischen Militärgerichten verhandelt.
Es wurden aber auch noch andere Verfahren wegen Endphaseverbrechen geführt
- wegen Verbrechen an Zwangsarbeitern/ KZ-Häftlingen, an Häftlingen
im Zuge der Räumung von Haftanstalten (z. B. Strafanstalt Stein), wegen
Verbrechen im Zuge von Widerstandsverhalten, wegen Denunziation und in einem
Fall wegen „Euthanasieverbrechen“ in der Endphase. Für die
Steiermark spezifisch sind die Erschießungen von Partisanen und Verbrechen
im Zuge der Werwolftätigkeit, das ist Bildung von bewaffneten Kommandos,
die den Kampf weiterführen wollten.
Insgesamt haben die Volksgerichte und ab 1955 die Geschworenengerichte in
128 Strafrechtsfällen über 262 Personen ein Urteil wegen Endphaseverbrechen
gesprochen.
Diese Zahl mag relativ hoch erscheinen, allerdings gebe ich zu Bedenken, dass
eine Vielzahl eingeleiteter Verfahren auch wieder eingestellt wurde. Am Linzer
Volksgericht wurden beispielsweise zwei Drittel der eingeleiteten Verfahren
eingestellt.
In ganz Österreich wurden 29 Todesurteile wegen Endphaseverbrechen ausgesprochen,
23 davon vollstreckt. 21 Personen wurden zu lebenslanger Haft verurteilt.
Das ist insgesamt mehr als die Hälfte aller in Österreich ergangenen
Höchststrafen (43 Todesurteile und 29 lebenslange Haftstrafen).
Eine Besonderheit der gerichtlichen Ahndung der Gewaltverbrechen im Zuge der
Todesmärsche stellt dar, dass die Verfahren größtenteils in
den ersten Monaten bzw. Jahren nach Kriegsende eingeleitet wurden, als der
Zeitpunkt der Verbrechen noch nicht lange zurücklag, der unmittelbare
Eindruck der Gewaltverbrechen sowohl bei den Zeugen und Zeuginnen als auch
bei den Tätern noch vorhanden war und die Verbrechen als besonders verabscheuungswürdig
empfunden wurden.
Das heutige Wissen über die Todesmärsche stammt nicht nur aus Ortschroniken,
sondern ist auch das Ergebnis von Recherchen der Israelitischen Kultusgemeinde,
von Simon Wiesenthal und WissenschaftlerInnen.
Darüber hinaus finden sich in den Volksgerichtsakten zahlreiche Dokumente
und Zeugenaussagen von Menschen, die mit eigenen Augen gesehen haben, welche
unvorstellbaren Torturen die Häftlinge und ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter
erleiden mussten.
Die österreichischen Ermittler befragten Zeugen, führten kurz nach
Kriegsende Lokalaugenscheine durch, exhumierten Leichen, identifizierten sie,
überstellten sie teilweise nach Wien und fertigten Exhumierungsprotokolle
an, die heute noch Zeugnis ablegen von den grausam verübten Morden.
Der größte Verfahrenskomplex der Geschichte der österreichischen
Volksgerichtsbarkeit sind die Verfahren in Zusammenhang mit den Lagern für
ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in Engerau, dem heutigen Petrzalka.
Insgesamt wurden sechs Engerauer Prozesse geführt, gegen mehr als siebzig
Personen wurde ermittelt. Neun Jahre lang beschäftigte sich das Volksgericht
Wien mit den Morden und Misshandlungen im Lager, den Massakern bei der Auflösung
der Lager und mit den Erschießungen auf dem Todesmarsch von Engerau
nach Bad Deutsch Altenburg. Gegen zwanzig Personen wurde Anklage erhoben,
neun Personen zum Tod verurteilt und auch hingerichtet. Zu diesem Thema wird
in den kommenden Monaten die Dissertation von Claudia Kuretsidis-Haider publiziert
werden.
Der erste Engerau Prozess war gleichzeitig der erste Prozess, der vor dem
Volksgericht Wien Mitte August 1945 abgehalten wurde. Das letzte Urteil in
Zusammenhang mit Engerau wurde im Juli 1954 gesprochen - lebenslange Haft
für den ehemaligen SA-Scharführer Peter Acher wegen Massenmord,
wegen Misshandlung und Demütigung von ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern.
Das Urteil gegen Acher fiel für das Jahr 1954 ungewöhnlich hoch
aus, bedenkt man, dass 1954 die Tendenz des Verdrängens der NS-Verbrechen
bereits in das konkrete Stadium des "nicht mehr wissen Wollens"
eingetreten war, was sich in zahlreichen milden Urteilen bzw. Verfahrenseinstellungen
widerspiegelt.
Ein Beispiel dafür, dass der Zeitpunkt des Stattfindens eines Verfahrens
für den Prozessausgang ausschlaggebend war, sind zwei Prozesse wegen
eines Massakers, das an Juden und Jüdinnen in Randegg und Göstling
im April 1945 verübt worden ist.
1948 wurde der HJ-Führer Ernst Burian vom Volksgericht Wien zu lebenslanger
Haft verurteilt, fünf Jahre später jedoch wieder bedingt entlassen,
da Innenminister Oskar Helmer 1953 in einem Brief an Justizminister Josef
Gerö Burians Gnadenwürdigkeit befürwortete.
Der Angehörige des Sicherheitsdienstes Josef Höblinger wurde wegen
der selben Tatvorwürfe in einem Geschworenengericht 1961 einstimmig aus
Mangel an Beweisen freigesprochen. Hervorzuheben ist, dass sich sowohl Höblinger
als auch Burian mit den Mordplänen identifiziert und auch aktiv daran
beteiligt haben. In beiden Fällen lag kein direkter Befehl vor und selbst
wenn, hätte Höblinger den Befehl unter Berufung auf seine Zugehörigkeit
zum Sicherheitsdienst und Burian unter Berufung auf seine Zugehörigkeit
zur HJ verweigern können. Das Verhalten der beiden zeigte eindeutig,
dass sie sich freiwillig als Helfershelfer zur Verfügung gestellt hatten.
Zusammenfassend kann nun gesagt werden:
In den ersten Nachkriegsjahren, als das nationalsozialistische
Terrorsystem in der Öffentlichkeit und der Bevölkerung noch sehr
präsent war, wurden die Täter wegen Endphaseverbrechen zum Tode
bzw. zu hohen Haftstrafen verurteilt. Im Laufe der Zeit ließ die Erinnerung
nach - es gab zwar keine Todesstrafen mehr, wohl aber neben milderen Strafen
(Deutsch Schützen) noch immer lebenslange Haftstrafen. In den 50er Jahren,
als es überhaupt keine Reflexion mehr über die Ursachen, Hintergründe
und Abläufe des Terrorsystems gab und die meisten Täter freigesprochen
wurden, betrafen die Höchststrafen wieder Endphaseverbrechen bzw. Südostwallverfahren.
Das heißt der Verlauf der Verurteilungen in Zusammenhang mit Verbrechen
an ungarischen Juden auf den Todesmärschen entspricht nicht ganz dem
zeitlichen Verlauf der Spruchpraxis der österreichischen Volksgerichte
im allgemeinen.
In den Jahren ab 1955 kam es in den
Geschworenengerichten in erster Linie zu Freisprüchen.
Kaum jemand kennt alle Orte, an denen
Verbrechen im Zuge der Todesmärsche stattfanden. Daher muss auch angenommen
werden, dass gegen zahlreiche Täter aufgrund der vielen Verbrechen und
vielen Tatorte nicht gerichtlich ermittelt worden ist. In vielen Fällen
gelang es den Gerichten auch nur zum Teil die Täter auszuforschen. Vielfach
waren sie deutsche Staatsangehörige, die sich nur kurz an den Tatorten
aufhielten. Einige konnten sich auch durch gezielte Flucht der Ahndung durch
Gerichte entziehen. Zudem gelang es einigen NS-Verbrechern unter falschem Namen
unbehelligt weiter zu leben.
Die Endphaseverbrechen sind ein Beispiel
für die Argumentation der Beschuldigten, dass sie nur ein kleines "Rädchen
im großen Getriebe“ gewesen waren. Die Berufung auf den Befehlsnotstand
findet sich in zahlreichen Volksgerichtsakten. Die Möglichkeit, den Befehl
zu verweigern, auf wehrlose Menschen zu schießen bzw. sich von den Kolonnen
zu entfernen war gegeben. Andere beteiligten sich aus eigener Initiative an
den Massakern.
Ich denke, dass unsere Tätigkeit nicht nur eine Forschung
mit Vergangenheitsbezug ist, sondern dass wir sehr wohl auch Fragestellungen
aus der Vergangenheit für die Zukunft formulieren können.