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Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1959-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn-München-Wien-Zürich, 2002, 514 Seiten.
Verlag Ferdinand Schöningh, Preis: 49,80 € (Deutschland), 51,20 € (Österreich)

Rezension von W. R. Garscha

Die Konfrontation mit den Verbrechen der NS-Vergangenheit warf für beide deutsche Staaten Fragen auf, die zentral für das Selbstverständnis der politisachen Eliten waren. Im Mittelpunkt dieser umfangreichen Arbeit steht die Frage nach den Zusammenhängen zwischen der vergangenheitspolitischen Systemkonfrontation BRD/DDR und dem strafrechtlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Die thematische Fokussierung auf die sechziger Jahre ergab sich vor allem aus der tatsache, dass mit der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg (Dezember 1958) der faktische Stillstand der NS-Täterverfolgung in der Bundesrepublik Deutschland durch eine selektive Strafverfolgung ersetzt wurde, deren Hintergründe und Resultate die Autorin darstellt. Zeitlich wie inhaltlich knüpft sie an das Standardwerk von Norbert Frei Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit an, verbindet jedoch die Perspektive der politischen mit der juristischen Zeitgeschichte, indem sie auf zahlreiche Strafverfahren ausführlich eingeht.

Die Hauptthemen des Buches:

  • NS-Strafverfolgung durch alliierte und deutsche Gerichte von 1945 bis 1949
    »Bewältigung der frühen Bewältigung« in der Bundesrepublik / Amnestien, Scheinjustiz und operative Maßnahmen in der frühen Ära Ulbricht.
    Zwei Kapitel, die das deutsche Gegenstück zur »Entsorgung« der Ergebnisse der Volksgerichtsbarkeit in Österreich analysieren und daher zu einem Vergleich auffordern.
  • Zur Vorgeschichte der Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg
  • NS-belastete bundesdeutsche Justiz als Gegenstand der vergangenheitspolitischen Systemkonfrontation (»Adenauers Blutrichter«, der DDR-Prozess gegen Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer)
  • Auswirkungen des Eichmann-Prozesses – halbamtliche Kontakte zwischen Ludwigsburg und Warschau – Kurswechsel bei den Rechtshilfebeziehungen der Bundesrepublik mit der DDR und den übrigen kommunistisch regierten Ländern
  • Die Verjährungsdebatte in der Bundesrepublik
  • Der Kampf um die NS-Akten zwischen Polen und der DDR
  • Die DDR-Nebenklage im Frankfurter Auschwitz-Prozess NS-Prozesse als Bühne geschichtspolitischer Legitimationsversuche
  • Die Vorbereitung des Prozesses gegen Funktionäre des Reichssicherheitshauptamtes vor dem West-Berliner Kammergericht (1964–1969) als Prüfstein für die deutsch-deutschen Rechtsbeziehungen
  • DDR-Strafverfolgung durch Organe der »Staatssicherheitsjustiz« – »operative Beobachtung« als Ersatz für strafrechtliche Verfolgung? (Mit einem Exkurs über den Umgang mit »Euthanasie-Ärtzten« in der DDR)

    Ein umfangreicher Anmerkungsapparat und ein Personenverzeichnis machen dieses Buch auch zu einem unentbehrlichen Nachschlagwerk für die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen in den beiden Deutschland in eben jenem Jahrzehnt, in dem die österreichische Justiz sowohl wegen der geringen Anzahl der Verfahren, die »anklagereif« gemacht wurden, als auch wegen teilweise skandalöser Wahrsprüche der Geschworenen international ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Weinkes materialreiche Studie würde einen zwischenstaatlichen Vergleich bezüglich des – für Österreich allerdings erst zu untersuchende – Wechselverhältnisses zwischen der Vergangenheitspolitik der politischen Eliten und dem Versagen der Justiz bei der Ahndung der NS-Verbrechen ermöglichen.

    Annette Weinke, geb. 1963, Visiting Professor an der University of Massachusetts, war mehrere Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der „Arbeitsgruppe Regierungskriminalität“ der Berliner Staatsanwaltschaft, arbeitet gegenwärtig an einem Forschungsprojekt zum ostdeutschen Gerichtsfilm. Die jetzt gedruckt vorliegende Arbeit wurde 2001 von der Universität Potsdam als Dissertation approbiert.





  • Erscheint in: Justiz und Erinnerung Nr. 8 (November 2003)