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Österreichische Justiz und NS-Verbrechen
Nationalsozialistische Tötungsverbrechen vor österreichischen Gerichten
Justizgeschichtliches Dokumentationsprojekt über die Urteile österreichischer Gerichte wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen

Projekt-Exposé

Einige Fakten zur österreichischen Nachkriegsjustiz

Bedeutung der Urteile österreichischer Gerichte wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen für die historische Forschung

Bedeutung von Urteilen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen für die gegenwärtige Ahndung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen

Die Urteilsedition "Justiz und NS-Verbrechen"
Justiz und NS-Verbrechen (westliche Besatzungszonen bzw. Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin)
DDR-Justiz und NS-Verbrechen
Die geplante Edition Österreichische Justiz und NS-Verbrechen

Österreichische Besonderheiten

Die Urteilssammlung der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz

Geplanter Aufbau der Edition "Österreichische Justiz und NS-Verbrechen"

Stellungnahmen zum Projekt-Exposé


Prof. Hans-Heinrich Jeschek
Prof. Reinhard Moos

Informationen zum Projekt

Anschubfinanzierung durch die niederländischen
Stiftung zur wissenschaftlichen Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen
Arbeitsplan

 

Projekt-Exposé


1. Einige Fakten zur österreichischen Nachkriegsjustiz

Zwischen 1945 und 1955 bestand in Österreich zur Aburteilung nationalsozialistischer Straftaten eine besondere Schöffengerichtsbarkeit, die so genannten Volksgerichte. Von den 28.100 Anklagen der vier Volksgerichte in Graz, Innsbruck, Linz und Wien führten 23.500 zu einem Urteil (darunter 13.600 Schuldsprüche). Nach derzeitigem Forschungsstand ergingen in 526 Verfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen Urteile. Die Anzahl der Volksgerichtsprozesse, in denen zwar Anklage erhoben, das Verfahren aber vor Eröffnung der Hauptverhandlung eingestellt wurde, ist nicht bekannt.
Die von den Volksgerichten geahndeten NS-Tötungsverbrechen waren: Mord, Totschlag und Beihilfe zu diesen Verbrechen. Der Großteil der geahndeten Tötungsverbrechen entfiel auf Morde bei Kriegsende, Tötungen in Konzentrationslagern und anderen Haftstätten sowie Euthanasie-Anstalten, auf Beihilfe zu den Deportationen in Ghettos und Vernichtungslager, sowie auf Denunziationen mit Todesfolge. Rund zwei Drittel der von den Volksgerichten geahndeten NS-Tötungsverbrechen waren Verbrechen in der Endphase des NS-Regimes sowie Denunziationen, in deren Gefolge die denunzierte Person hingerichtet oder im KZ ermordet wurde.
Seit 1956 wurde in weiteren 35 Fällen Anklage vor Geschworenen- oder Schöffengerichten wegen nationalsozialistischen Tötungsverbrechen erhoben, in 24 Prozessen wegen Massenmorden an Jüdinnen und Juden. Zwischen 1956 und 1975 wurden 30 dieser Prozesse mit Urteil abgeschlossen. In 4 Verfahren ergingen zwischen 1974 und 1978 gerichtliche Einstellungsbeschlüsse. Das letzte Verfahren wurde 2005 eingestellt.

2. Bedeutung der Urteile österreichischer Gerichte wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen für die historische Forschung

Die Entscheidungen der Gerichte (Urteile sowie Verfahrenseinstellungen nach Anklageerhebung) zeigen auf eindrucksvolle Weise die Bemühungen der österreichischen Justiz, das ganze Spektrum nationalsozialistischer Verbrechen vom Massenmord im Zuge des Holocaust bis zu schäbigem Verhalten gegenüber jüdischen NachbarInnen und zur Denunziation von ArbeitskollegInnen zu ahnden – aber auch das teilweise Scheitern dieser Bemühungen.
Einen Einblick in den Quellenwert dieser Dokumente vermittelt der im März 2006 erschienene Sammelband "Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich" (hrsg. v. Thomas Albrich, Winfried R. Garscha und Martin F. Polaschek).
Die Urteile dokumentieren Verbrechen, für die sie in vielen Fällen die einzige Quelle darstellen. So wurde beispielsweise das Ausmaß der in den letzten Wochen des NS-Regimes in Österreich begangenen Verbrechen erst mit der auszugsweisen Publikation von Gerichtsdokumenten seit den späten 1980er Jahren in relevantem Umfang zum Gegenstand der Gedenkkultur und der zeitgeschichtlichen Forschung.
Besonders umfangreich sind die Texte von Urteilen zu Tötungsverbrechen. Sie bilden eine unverzichtbare Quelle für die wissenschaftliche Forschung, die allerdings nur durch Einsichtnahme in die entsprechenden Archivbestände der Landesarchive – bzw. in jenen Fällen, in denen die Justizakten noch nicht an die Archive abgegeben wurden, der Gerichte – genutzt werden kann.
Im Unterschied zu den österreichischen liegen die entsprechenden deutschen Urteile in den Urteilseditionen "Justiz und NS-Verbrechen" (für die westlichen Besatzungszonen bzw. die Bundesrepublik Deutschland) und "DDR-Justiz und NS-Verbrechen" (für die sowjetische Besatzungszone bzw. die DDR) in gedruckter Form vor. 35 Bände der westdeutschen und 8 Bände der ostdeutschen Serie sind bisher erschienen. Die von der Amsterdam University Press veröffentlichten Bände erscheinen seit 2001 als Gemeinschaftspublikation mit dem Münchner Saur-Verlag.

3. Bedeutung von Urteilen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen für die gegenwärtige Ahndung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen

Die österreichischen Gerichte ahndeten NS-Verbrechen auf der Basis sowohl des geltenden Strafgesetzes als auch neuer strafrechtlicher Bestimmungen. Mit letzteren versuchte der österreichische Gesetzgeber – teilweise bereits vor der Erlassung entsprechender Gesetze und Verordnungen durch die Alliierten – die Einzigartigkeit nationalsozialistischer Verbrechen zu fassen.
Im österreichischen Kriegsverbrechergesetz vom 26. Juni 1945 wurde Verbrechen, die "den natürlichen Anforderungen der Menschlichkeit widersprechen", ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Dadurch wurden die Gerichte veranlasst, Tatbestände wie Misshandlung, Beleidigung, Versetzung in einen qualvollen Zustand, unter neuen, bisher im Strafgesetz nicht enthaltenen Gesichtspunkten zu beurteilen. Dies kam insbesondere im neuen Straftatbestand der "Verletzung der Menschenwürde" (§ 4 Kriegsverbrechergesetz) zum Ausdruck, der in besonders schwerwiegenden Fällen psychischer Folter sogar die Todesstrafe androhte.
Die Urteile bieten somit Beispiele für Fragestellungen, die auch in den gegenwärtig geführten Diskussionen um die Ahndung staatlich befohlener oder geduldeter Kriegs- und Humanitätsverbrechen aufgeworfen werden, und sind daher nicht nur von historischem Interesse. Die Voraussetzung für eine systematische juristische Auswertung und eine darauf aufbauende wissenschaftliche Debatte ist allerdings, dass die Urteile leichter als bisher zugänglich sind, nämlich in gedruckter Form.

4. Die Urteilsedition "Justiz und NS-Verbrechen"

Die Edition von Strafurteilen wegen NS-Verbrechen dient sowohl der historischen als auch der juristischen Forschung. Für viele NS-Verbrechen sind die Strafakten der Nachkriegsprozesse die wichtigste, oft sogar die einzige historische Quelle. Die Urteile bilden – als Ergebnis der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen sowie der Abwägung der Argumente von Anklage und Verteidigung in der Hauptverhandlung – eine wertende Zusammenfassung der wesentlichen, im Verfahren zutage gekommenen Tatbestände. Damit sind sie gleichzeitig ein Findhilfsmittel für die Gesamtheit der überlieferten Akten von Verfahren wegen NS-Verbrechen.
Die Sammlung deutscher Strafurteile wegen NS-Verbrechen, die in den sechziger Jahren vom Amsterdamer Strafrechtsprofessor Christiaan Frederik Rüter begonnen wurde, umfasst Urteile und Einstellungsbeschlüsse von Gerichten der westlichen Besatzungszonen bzw. der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins wegen NS-Tötungsdelikten. 2002 folgte die Serie "DDR-Justiz und NS-Verbrechen".

a) Justiz und NS-Verbrechen
(westliche Besatzungszonen bzw. Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin)
Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945– 1999, ca. 50 Bände und 2 Registerbände, Amsterdam-München 1966 bis ca. 2011.
Die Sammlung enthält Urteile und gerichtliche Einstellungsbeschlüsse in (west-)deutschen Strafverfahren wegen NS-Tötungsverbrechen, die zwischen dem 1. September 1939 und dem 8. Mai 1945 begangen wurden. Die Bände sind chronologisch gegliedert (bisher sind – in 35 Bänden – Gerichtsentscheidungen von 1945 bis 1971 erschienen) und enthalten neben den Urteilen die für den jeweiligen Zeitraum wichtigsten Änderungen im materiellen und prozessualen Recht. Neben einem vorläufigen Gesamtregister 1945–1997 wurde ein Registerband für die Bände I bis XXII (1945–1966) vorgelegt, der auch die Rechtsquellen im Wortlaut enthält.

b) DDR-Justiz und NS-Verbrechen
Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, ca. 11 Bände und 1 Registerband, Amsterdam-München 2002 bis ca. 2008.
Die Sammlung enthält Urteile 1945–1989 und Rehabilitierungsbeschlüsse seit 1990 in ostdeutschen Strafverfahren wegen NS-Tötungsverbrechen, die zwischen 1933 und 1945 begangen wurden. Die Bände sind chronologisch gegliedert, allerdings beginnend mit dem letzten Urteil eines DDR-Gerichts im September 1989 (bisher sind – in 6 Bänden – Gerichtsentscheidungen von 1989 zurück bis 1950 erschienen). Die Edition wurde mit dem Registerband begonnen, der auch die Rechtsquellen im Wortlaut sowie eine Darstellung des DDR-Gerichtssystems enthält.

Die Bände beider Serien enthalten die Texte der rechtswirksam gewordenen Gerichtsentscheidungen sowie Auszüge aus erstinstanzlichen Urteilen (ohne die Namen des beteiligten Justizpersonals). Mit Ausnahme von Todesurteilen und Urteilen zu lebenslänglichen Strafen werden die Namen der Angeklagten abgekürzt. Ferner werden die Gerichtsentscheidungen kategorisiert und bestimmten (in der Folge "Rüter-Kategorien" bezeichneten) Tatkomplexen zugeordnet.
Die verschiedenen Gesamtregister (Tatkomplexe, Dienststellen, Opferkategorien, Angeklagte, Tatland/Tatort, urteilende Gerichte) sowie Auszüge aus den Urteilen (z.B. das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 22. Dezember 1970 gegen den aus Österreich stammenden Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka, Franz Stangl) sind auch im Internet abfragbar.

c) Die geplante Edition Österreichische Justiz und NS-Verbrechen
Nationalsozialistische Tötungsverbrechen vor österreichischen Gerichten, ca. 12 Bände und 1 Registerband, München-Wien ca. 2008 bis ca. 2012.
Die Sammlung soll die Urteile der 526 Prozesse wegen NS-Tötungsverbrechen vor den vier österreichischen Volksgerichten 1945–1955 und die Anklageschriften und Urteile bzw. gerichtlichen Einstellungsbeschlüsse in den 35 Prozessen wegen NS-Tötungsverbrechen vor Geschworenengerichten 1956–2005 enthalten. (Zur Begründung der Aufnahme der 35 Anklageschriften seit 1956 in die Urteilsedition siehe unten, Punkt 5.) Die Nummerierung der Urteile erfolgt, wie in den beiden deutschen Editionen, in chronologischer Reihenfolge. Ihr Abdruck in den einzelnen Bänden folgt allerdings nicht der Chronologie, sondern wird nach Tatkomplexen gegliedert, sodass die einzelnen Bände jeweils sämtliche Urteile zur NS-Euthanasie, zu Kriegsverbrechen, Verbrechen in Haftstätten etc. beinhalten. Die Edition wird mit dem Registerband begonnen, der eine Kurzbeschreibung sämtlicher Urteile in chronologischer Reihenfolge sowie die Rechtsquellen im Wortlaut und eine Darstellung der unterschiedlichen Gerichtstypen (Volksgericht, Schöffengericht, Geschworenengericht) enthält.
Seit 2004 verhandelt der Saur-Verlag mit der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz über die Komplettierung der Edition durch eine Reihe "Österreichische Justiz und NS-Verbrechen".

5. Österreichische Besonderheiten

Bereits die Edition "DDR-Justiz und NS-Verbrechen" machte deutlich, dass zur Beurteilung der justiziellen Ahndung von NS-Verbrechen die Kenntnis sowohl des politisch-gesellschaftlichen Umfelds, in dem die Justiz tätig war, als auch der institutionellen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen erforderlich ist. Gleichzeitig zeigt der Vergleich der ostdeutschen mit der westdeutschen Edition Ähnlichkeiten juristischen Handelns über die Systemgrenzen hinweg. Die Ergebnisse des von Oktober 2002 bis Juni 2006 in Wien, Graz und Innsbruck parallel durchgeführten, vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanzierten Projekts "Justiz und NS-Gewaltverbrechen in Österreich. Regionale Besonderheiten und Vergleich mit Deutschland" beweisen, dass dies gleichermaßen für den österreichisch-deutschen Vergleich zutrifft.
Die wichtigste Besonderheit der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Österreich im Vergleich zu Deutschland war, dass sich die österreichischen Gerichte, wie erwähnt, zusätzlich zum geltenden Strafrecht bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre auf spezifische Gesetze stützten, die eigens zum Zweck der Aburteilung von NS-Verbrechen erlassen worden waren. Alliiertes Recht, wie das vor allem in Denunziationsverfahren bis 1949 angewandte deutsche Kontrollratsgesetz 10 bzw. völkerrechtliche Strafbestimmungen, wie sie in das DDR-Strafrecht aufgenommen wurden, kamen in Österreich nicht zur Anwendung. Bis 1955 wurden derartige Verfahren in Österreich vor eigenen Gerichten, den erwähnten Volksgerichten, geführt. Diese Gerichte hatten zudem Aufgaben der Entnazifizierung zu erfüllen. Anklagepunkte wie Hochverrat durch Mitgliedschaft bei der illegalen NSDAP vor der Annexion 1938 oder der so genannte Registrierungsbetrug von registrierungspflichtigen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern finden sich daher auch in Urteilen von Prozessen wegen NS-Gewaltbrechen. Da die Gerichte bei der Strafzumessung diese (Formal-)Delikte einzurechnen hatten, ist es trotz der Beschränkung der Urteilsedition auf NS-Tötungsverbrechen erforderlich, jeweils den gesamten Urteilstext abzudrucken.

Darüber hinaus sind bei der Urteilsedition folgende formale Merkmale der österreichischen Strafakten zu berücksichtigen:
a) Volksgerichtsurteile (1945–1955)
Da es sich bei den Volksgerichten um Schöffengerichte handelte, die in gemeinsamer Beratung von Berufs- und Laienrichtern zur Urteilsfindung gelangten, hatte der vorsitzende Richter in der schriftlichen Ausfertigung des Urteils die Entscheidungsgründe darzulegen. Bezüglich der Ausführlichkeit dieser Entscheidungsgründe gleicht das österreichische Schöffengerichtsurteil in der Regel eher dem ostdeutschen als dem westdeutschen Urteil; Urteilstexte von mehr als 20 Seiten sind selten.
Die Urteilstexte enthalten fallweise Hinweise auf in der Hauptverhandlung vorgelegte Dokumente – in der Edition sind diese Dokumente in Anmerkungen zusammenfassend wiederzugeben (siehe zu den Anmerkungen weiter unten, Pkt. 8/Arbeitsplan).
b) Schöffengerichtsurteile
Seit der Abschaffung der Volksgerichte (20. Dezember 1955) wurden zwei Verhandlungen wegen NS-Tötungsverbrechen vor einem Schöffengericht geführt. Für diese Urteilstexte gelten die unter a) dargelegten Merkmale.
c) Geschworenengerichtsurteile
In Geschworenengerichtsprozessen gründet sich das Urteil auf den Wahrspruch der Geschworenen, der nicht zu begründen ist. Die Geschworenen haben die an sie gerichteten Fragen mit Ja oder Nein zu beantworten, der Urteilstext enthält nur diese Fragen.
d) Gerichtliche Einstellungsbeschlüsse
Die Einstellung eines Gerichtsverfahrens erfolgt auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Der gerichtliche Einstellungsbeschluss enthält keine inhaltliche Begründung, sondern nur das Datum und den Paragraph der Strafprozessordnung, auf den sich der Antrag der Staatsanwaltschaft gründet.
Um dennoch eine inhaltliche Zuordnung zu ermöglichen, soll in den beiden letztgenannten Fällen auch der Text der jeweiligen Anklageschrift abgedruckt werden. Österreichische Anklageschriften sind in der Regel wesentlich kürzer als (west-)deutsche, da sie nur in wenigen Ausnahmefällen eine ausführliche historische Einordnung des Verbrechens beinhalten. Meist enthält die Anklageschrift nur eine Kurzdarstellung des Tatvorwurfs und die rechtliche Würdigung des angeklagten Delikts.

6. Die Urteilssammlung der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz

Die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, die am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und am Österreichischen Staatsarchiv tätig ist, wurde 1998 im Beisein des damaligen Bundesministers für Justiz Nikolaus Michalek gegründet. Präsident ist der Salzburger Experte für internationales Strafrecht und Verfasser des ersten Kommentars zum Rom Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, Otto Triffterer. Vorsitzende des Kuratoriums sind Heinrich Neisser und Ferdinand Lacina. Geleitet wird die Forschungsstelle von Winfried R. Garscha und Claudia Kuretsidis-Haider.
Grundlage für die Auswahl der zu publizierenden Urteile ist die Sammlung der Urteile österreichischer Verfahren wegen NS-Verbrechen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz. In unterschiedlicher Erschließungstiefe enthält diese Sammlung laufend ergänzte Angaben zu Verfahren vor allen vier Volksgerichten. Die Linzer Volksgerichtsverfahren sind bereits vollständig ausgewertet; die Wiener Volksgerichtsverfahren sind bezüglich Namen und Geschäftszahlen (nicht jedoch der Verfahrensgegenstände) komplett erfasst.
Eines der Ergebnisse des oben erwähnten Projekts "Justiz und NS-Gewaltverbrechen in Österreich. Regionale Besonderheiten und Vergleich mit Deutschland" war ein vorläufiges Verzeichnis der österreichischen Gerichtsurteile wegen NS-Tötungsverbrechen. Nach einer Revision dieser Liste (in erster Linie sind nicht völlig eindeutige Zuordnungen durch eine Autopsie des jeweiligen Akts zu klären) wird jedes Urteil eine fortlaufende Ordnungsnummer entsprechend der chronologischen Reihenfolge erhalten, unabhängig vom Gerichtsstandort.

7. Geplanter Aufbau der Edition "Österreichische Justiz und NS-Verbrechen"

Auswertung der Urteile und ihre Zuordnung zu Verbrechenskomplexen orientieren sich an den von C. F. Rüter in der ersten Hälfte der 1960er Jahren für die westdeutschen Urteile entwickelten Kategorien für Tatkomplexe, Opfer und Dienststellen der Angeklagten. Sie wurden für die Erfassung der Volksgerichtsverfahren in Wien und Linz bereits entsprechend den Spezifika der österreichischen Gerichtsbarkeit modifiziert und ergänzt; die Terminologie wurde in einigen Fällen an den sozialwissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte angepasst.
Die Zuordnung zu den Verbrechenskomplexen erfolgt, analog den Richtlinien von "Justiz und NS-Verbrechen", entsprechend den durch die Anklage vorgegebenen Verhandlungsgegenständen, unabhängig vom Ausgang des Verfahrens (Schuldspruch, Freispruch, Verfahrenseinstellung). Der jeweilige Hauptanklagepunkt dient als Ordnungskriterium für die Gliederung der Edition:
• Prozesse wegen Denunziation mit Todesfolge
• Prozesse wegen Euthanasie
• Prozesse wegen Justizverbrechen
• Prozesse wegen Kriegsverbrechen
• Prozesse wegen Massenvernichtungsverbrechen (durch Einsatzgruppen / in Lagern / andere)
• Prozesse wegen NS-Gewaltverbrechen in Haftstätten
• Prozesse wegen Schreibtischverbrechen mit Todesfolge
• Prozesse wegen Verbrechen der Endphase mit Todesfolge
• Prozesse wegen anderer NS-Tötungsverbrechen
Jedes Urteil wird nur einmal abgedruckt. Innerhalb der Bände werden die Urteile, gemäß ihren Ordnungsnummern, chronologisch angeordnet. Urteile, die wegen mehrerer Tatvorwürfe ergingen, werden dem jeweiligen Hauptanklagepunkt zugeordnet und in dem entsprechenden Band vollständig abgedruckt, einschließlich der nicht den Hauptanklagepunkt betreffenden Urteilsteile. Auf diese wird in den jeweiligen thematischen Bänden an der Stelle der betreffenden Ordnungsnummer unter Angabe des Bandes, in dem das Urteil abgedruckt ist, verwiesen.

Der Registerband wird die chronologische Liste der Urteile enthalten, jeweils mit einer Kurzbeschreibung der Tatvorwürfe, Angabe von Tatort und Tatzeit, Tatkomplex, Opfer- und Dienststellenkategorie, Angeklagte und Urteil. Mit Ausnahme von Personen der Zeitgeschichte sowie von Angeklagten, die zum Tode oder zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, werden sowohl im Register als auch in der Urteilsedition alle Namen anonymisiert.

Zusätzlich zu den Kurzbeschreibungen der Urteile beinhaltet der Registerband folgende Auflistungen, jeweils mit Angabe der Ordnungsnummern der Urteile:
• Angeklagte (mit/ohne Namensnennung),
• Dienststellen der Angeklagten,
• Gerichtsentscheidungen (Urteile/Einstellungsbeschlüsse in der alphabetischen Reihenfolge der Gerichte, innerhalb dieser in der Reihenfolge der Geschäftszahl der Verfahren),
• Opfer,
• Tatkomplex,
• juristischer Straftatbestand (mit diesem Teil des Registerbandes werden übrigens auch die zusätzlich zu den Tötungsdelikten verhandelten Straftatbestände abfragbar gemacht),
• Tatland/Tatort/Tatzeit,
• Urteile (Schuldsprüche werden nach der Höhe der Strafe geordnet);
• Karten der Tatorte.

Im dritten Teil des Registerbandes werden die Rechtsquellen abgedruckt. Dabei handelt es sich nicht nur um die besonderen, zur Ahndung von NS-Verbrechen erlassenen Gesetze (Verbotsgesetz, Kriegsverbrechergesetz, Volksgerichts- und Vermögensverfallsgesetz), die von 1945 bis 1957 in Kraft waren, und die entsprechenden Bestimmungen der Strafprozessordnung, sondern auch um die Paragraphen des bis einschließlich 1974 gültigen Strafgesetzes von 1852, die in Prozessen wegen NS-Verbrechen zur Anwendung kamen. Ferner werden die in den seit 1975 ergangenen Gerichtsentscheidungen angewandten Paragraphen des gültigen österreichischen Strafgesetzbuchs abgedruckt.

Die Herausgabe der Edition soll – im Auftrag der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz – durch Winfried R. Garscha, Claudia Kuretsidis-Haider und Martin F. Polaschek erfolgen.
Winfried R. Garscha und Claudia Kuretsidis-Haider vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes führen seit Anfang der 1990er Jahre interdisziplinäre Forschungsprojekte zur Ahndung von NS-Verbrechen in Österreich durch und leiten die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz. Der Rechtshistoriker Martin Polaschek (Institut für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung der Universität Graz), Vizerektor für Studium, Lehre und Personalentwicklung der Universität Graz, forscht und publiziert zu verwaltungs- und strafrechtlichen Fragen, insbesondere zu Kriegsverbrecher- und NS-Wiederbetätigungsprozessen sowie zum humanitären Völkerrecht.
Die Herausgeber werden evaluierend beraten von einer internationalen Redaktion unter der Leitung von C. F. Rüter (Amsterdam). Weiters werden ihr u. a. angehören: der Präsident der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, Otto Triffterer (emeritierter Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie der Universität Salzburg), Reinhard Moos (emeritierter Professor für Strafrecht an der Universität Linz/Donau), Witold Kulesza (Leiter der Hauptkommission zur Ahndung von Verbrechen am polnischen Volk, Warschau; Strafrechtsprofessor an der Universität Lodz) und Michael Bryant (Assistent Professor of Criminal Science an der Universität Toledo/Ohio und Experte für die amerikanischen Prozesse in Deutschland) sowie die Historiker Henry Friedlander (Washington), Dick de Mildt (Amsterdam) und österreichische ZeithistorikerInnen.

8. Arbeitsplan

Phase I (1. Quartal 2007 bis 2. Quartal 2008): Arbeiten am Registerband

• Konstituierung des Internationalen Beirats und Diskussion des Arbeitsplans mit den für den internationalen Beirat vorgesehenen Juristen und Historikern sowie österreichischen JuristInnen und HistorikerInnen auf einem eintägigen Workshop in Wien.
• Kontrolle der oben erwähnten FStN-Urteilssammlung wegen Tötungsdelikten auf Vollständigkeit und Vornahme der chronologischen Durchnummerierung der zum Abdruck vorgesehenen Urteile;
• Durchsicht der ca. 530–550 Urteile wegen Tötungsdelikten (Gesamtumfang: ca. 8.000 bis 10.000 Seiten);
• Zuordnung zu den 12 geplanten (thematisch gegliederten) Bänden – am zeitaufwändigsten ist hierbei die Eruierung der voraussichtlich erforderlichen Anmerkungen und Aufnahme weiterer Teile des Akts in die Edition (dies betrifft in erster Linie die in Punkt 5 genannten Fälle, in denen der Abdruck der Anklageschrift vorgesehen ist; die Dokumente und Vernehmungsmitschriften, auf die sich die Anklage stützt, werden in der Regel nicht wörtlich zitiert, sondern nur durch Nennung der jeweiligen Ordnungsnummer im Akt gekennzeichnet, was die zumindest auszugsweise Zitierung im Anmerkungsteil erfordert); nur so kann der voraussichtliche Umfangs des jeweiligen Bandes eingeschätzt werden;
• Erfassung der in den Urteilen enthaltenen Rechtsquellen in ihrer jeweils zum Zeitpunkt des Urteils geltenden Fassung.
• Evaluierung des Manuskripts für den geplanten Registerband und Vornahme etwaiger Revisionen am Editionsplan durch den Internationalen Beirat auf einem zweitägigen Workshop in Wien.

Falls mit dem Projekt Anfang 2007 begonnen wird, kann der Registerband auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2008 präsentiert werden.

Phase II (3. Quartal 2008 bis 4. Quartal 2012): Edition der Urteils-Bände
3 Bände pro Jahr (jeweils 550 bis 850 Seiten)

Für jeden Band sind folgende Arbeitsschritte erforderlich:
• Texterfassung der Urteile (maximal 10 Prozent der Urteilstexte sind in einem Zustand erhalten, der eine Beschleunigung der Texterfassung durch OCR-unterstütztes Einscannen erlaubt);
• Überprüfung auf Schreibfehler (v.a. Namen, Orte);
• Verweise auf Urteile zum Thema des Bandes, die in anderen Bänden abgedruckt werden;
• unklare Formulierungen sowie Hinweise im Urteil auf andere Aktenteile durch Anmerkungen verständlich machen.

Jeder Band wird eine Einleitung enthalten, die folgende Aufgaben erfüllen soll:
• Zusammenfassende Analyse der Judikatur zu dem/den im jeweiligen Band enthaltenen Verbrechenskomplex(en);
• historische Einordnung der österreichischen Rechtsprechung zu den jeweiligen Verbrechenskomplexen vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung im Zeitraum der im Band dokumentierten Gerichtsentscheidungen;
• Überprüfung der in den Urteilen enthaltenen historischen Sachverhaltsbeschreibungen im Lichte der modernen Forschung sowie Abfassung entsprechender Ergänzungen und Korrekturen für die Einleitungstexte zu den einzelnen Bänden.

Jeweils nach der Publikation des 3. und des 6. Bandes: eintägiger Workshop mit den Mitgliedern des Internationalen Beirats und österreichischen JuristInnen und HistorikerInnen, um die jeweils publizierten Bände in der Fachwelt bekannt zu machen und allfällige Nachjustierungen im Editionsplan vorzunehmen.

Phase III (ab dem 2. Projektjahr, parallel zur Herausgabe des Registerbandes und zur Edition der Urteile): Internet-Auftritt und Öffentlichkeitsmanagement

• Web-Auftritt der Edition "Österreichische Justiz und NS-Verbrechen" ähnlich der Präsentation der deutschen Urteilssammlungen (http://www1.jur.uva.nl/junsv/)
• Öffentlichkeits- und Pressearbeit: regelmäßige Berichterstattung über den Fortgang der Dokumentation, Kontakt mit Medien, Organisierung der Buchpräsentationen.


Anschubfinanzierung für die Urteilsedition "Österreichische Justiz und NS-Verbrechen": 10.000 Euro von der niederländischen Stiftung zur wissenschaftlichen Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen

 



W. R. Garscha
Claudia Kuretdisis-Haider