Die Geschworenen und die Ahndung von NS-Gewaltverbrechen Kritische Fragen auf einer Veranstaltung von Richtervereinigung
und Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am 1. 12. 2005
Die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz
lud gemeinsam mit der Fachgruppe Strafrecht der Österreichischen Richtervereinigung
am 1. Dezember 2005 zu einer Tagung, auf der angesichts der historischen Erfahrung
der gerichtlichen Aufarbeitung von NS-Verbrechen der Frage nachgegangen wurde,
ob das – in den letzten Jahrzehnten eher dürftige – Ergebnis
der Bemühungen zur Ahndung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen
ein Argument gegen die österreichische Form der Geschworenengerichtsbarkeit
ist.
Anlass der Tagung war der 30. Jahrestag
des letzten Urteils in einem NS-Prozess in Österreich: Am 2. Dezember
1975 ging am Wiener Straflandesgericht ein Prozess gegen einen ehemaligen
SS-Mann wegen Verbrechen im KZ Mauthausen zu
Ende – es war das letzte Urteil in einem NS-Prozess in Österreich.
Der Angeklagte war schon 1972 von Linzer Geschworenen freigesprochen worden,
der Oberste Gerichtshof hatte dieses Urteil aufgehoben. Der neuerliche Freispruch
in Wien ließ offenbar die Justiz am Sinn derartiger Prozesse zweifeln:
Die noch laufenden Verfahren wegen NS-Verbrechen wurden eingestellt, und es
dauerte ein Vierteljahrhundert – bis zum "Fall Gross" –
bis wieder ein NS-Täter in Österreich vor Gericht gestellt wurde.
Während in der Bundesrepublik Deutschland noch in den achtziger Jahren
große NS-Prozesse über die Bühne gingen und die italienische
Justiz die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen wieder aufnahm,
bewirkte in Österreich nicht einmal die Waldheim-Diskussion ein Umdenken.
Nach Tausenden von Prozessen im ersten Nachkriegsjahrzehnt kam die Verfolgung
von NS-Tätern nach dem Abzug der alliierten Besatzungsmächte 1955
weitgehend zum Erliegen. Die so genannten Volksgerichte,
in denen drei Laien und zwei Berufsrichter gemeinsam über Schuld und
Strafe entschieden, wurden im Dezember 1955 abgeschafft. Die wenigen Prozesse
wegen Nazi-Verbrechen wurden vor Geschworenengerichten
geführt. Viele Wahrsprüche der Geschworenen erwiesen sich als zweifelhaft
Es kam sogar vor, dass sie von den Berufsrichtern wegen Rechtswidrigkeit ausgesetzt
werden mussten.
Wie aus allen Beiträgen auf der Veranstaltung hervorging, war traditionelle
Laiengerichtsbarkeit war durch die komplizierten
Fragen weit zurückliegender, unter staatlichem Schutz begangener Verbrechen
ganz offensichtlich überfordert. Sie folgte
weniger dem Recht als politischen Stimmungen – die Mehrheit der österreichischen
Bevölkerung wollte damals von einer Aufarbeitung der Kriegsverbrechen
genau so wenig wissen wie beispielsweise die serbische oder kroatische Gesellschaft
heute.
Nur Hellmut Butterweck widersprach in seinem
Beitrag der These, dass es an den LaienrichterInnen gelegen wäre, dass
NS-Verbrecher straflos blieben. Die Geschworenen hatten seiner Meinung –
in einer Art "negativem Lernprozess" – nur nachvollzogen,
was die politischen Eliten der Bevölkerung zur Zeit der Volksgerichte
vorexerziert hatten: NS-Verbrecher gehören nicht hinter Schloss und Riegel,
nicht einmal, wenn sie von unabhängigen Richtern für schuldig erkannt
und verurteilt worden waren: Die Politiker machten die Gefängnistore
weit auf – durch Begnadigungsaktionen, die rechtlich nicht nachvollziehbar
waren.
Die zur Ahndung gegenwärtiger Kriegs- und Humanitätsverbrechen gebildeten
Strafgerichte (wie das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag) kennen übrigens
keine Beteiligung von Laienrichterinnen und -richtern. Die historischen Erfahrungen
legen es nahe, die Eignung der Geschworenengerichte für "politische"
Straftaten zu überdenken – noch vor Inkrafttreten der neuen Strafprozessordnung
2008.
Vor dem aktuellen Hintergrund der Debatte um die Reform
des Strafprozessrechts in Österreich diskutierten am 1. Dezember
im Großen Schwurgerichtssaal des Grauen Hauses HistorikerInnen und Juristen
das Thema "Gerichtliche Aufarbeitung von NS-Gewaltverbrechen in Österreich".
Im historischen Teil stellte Peter Eigelsberger
den Mauthausenprozess des Jahres 1975 dar. Zwei
weitere Verfahrenskomplexe – bearbeitet von Eva Holpfer
und Sabine Loitfellner – verdeutlichten
die Problematik der Geschworenengerichtsbarkeit:
> Der lange Prozess gegen Eichmanns "Transportchef"
Franz Novak, der zwar letztendlich nicht freigesprochen wurde (eine
Falschmeldung, die immer noch in Zeitungsaufsätzen und Fernsehdokumentationen
verbreitet wird), doch es waren vier Hauptverhandlungen erforderlich, bis
ein Urteil zustande kam, das der Oberste Gerichtshof nicht mehr aufhob.
> Die beiden Wiener Auschwitz-Prozesse des Jahres
1972, in denen sowohl die Konstrukteure der Gaskammern als auch Exzesstäter
an der "Rampe" frei gingen – nicht wegen erwiesener Unschuld,
sondern weil viele Jahrzehnte nach den Verbrechen ZeugInnen Erinnerungslücken
aufwiesen, die für die Geschworenen mehr zählten als der eindeutige
Dokumentenbeweis.
Der juristische Teil des Symposions war schließlich grundsätzlichen
Fragen der Geschworenengerichtsbarkeit und ihrer Anfälligkeit für
Fehlurteile gewidmet, dargelegt von den Friedrich Forsthuber
(Richter am OLG Wien) und Michael Danek (Richter
am OGH).
Eine interessante Debatte entspann sich über die Frage, welche Auswirkungen
die Übergang von einem fast ausschließlich am Nationalitätsprinzip
orientierten Strafrecht zu einem in erster Linie am Territorialitätsprinzip
orientierten Strafrecht hatte – dieser Paradigmenwechsel war in Österreich
durch die Einführung des Strafgesetzbuchs 1975
erfolgt.
Sabine Loitfellner meinte, dass die Strafrechtsreform
1974 auch unter dem Blickwinkel gesehen werden müsse, dass die neuen
Bestimmungen über das anzuwendende "Tatort-Recht"
(und die jeweils nach diesem Recht gültigen Verjährungsbestimmungen)
zur Einstellung aller laufenden Verfahren führten, sogar solcher, in
denen bereits Anklage nach dem alten Strafgesetz erhoben worden war. Roland
Miklau, Sektionschef im Bundesministerium für
Justiz, bestritt – "in dieser Frage als Zeitzeuge" –
dass derartige Überlegungen bei der Strafrechtsreform keine Rolle spielten.
Was hingegen innerhalb des Ministeriums diskutiert wurde, waren die Schwierigkeiten
des Zeugenbeweises vor den Geschworenengerichten und die Sinnhaftigkeit
weiterer Anklagen mir zunehmendem Zeitablauf. Winfried Garscha
stellte die Frage, ob nicht die konkrete Handhabung des Tatort-Rechts einseitig
zugunsten der Beschuldigten erfolgte. Denn wenn Verfahren wegen nationalsozialistischer
Verbrechen in Gebieten, die während des Zweiten Weltkrieges zum so genannten
Generalgouvernement gehörten, eingestellt wurden, weil das zur Tatzeit
gültige polnische Strafgesetzbuch des Jahres 1932 eine 25jährige
Verjährungsfrist für Mord vorgesehen hatte, so werde von einer sowohl
historischen als auch juristischen Fiktion ausgegangen. Für deutsche
Reichsangehörige war das polnische Strafgesetzbuch zu keiner Zeit "Tatortrecht",
die deutschen Gerichte, die in allen besetzten Gebieten zur Aburteilung von
Straftaten deutscher Reichsangehöriger eingerichtet wurden, urteilten
nach dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch. Garscha:
"Mit der Annahme eines für alle im Generalgouvernement befindlichen
Personen gleichermaßen gültigen polnischen Tatort-Rechts imaginierten
österreichische Staatsanwaltschaften rückwirkend einen Rechtszustand,
der zur Tatzeit gar nicht bestanden hatte."
Friedrich Forsthuber wies darauf hin, dass diese
Frage nicht nur von historischem Interesse ist:
Sollte in 15 oder 20 Jahren eine Untersuchung gegen einen Österreicher
wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in den neunziger Jahren im Kosovo
oder in Bosnien-Herzegowina geführt werden, so könne die Bestrafbarkeit
eines derartigen Verbrechens doch nicht davon abhängig gemacht werden,
welche Verjährungsbestimmungen zufällig gerade in dem betreffenden
Teil Ex-Jugoslawiens theoretisch gültig waren (aufgrund der Kriegsereignisse
aber eine Verfolgung von Straftaten ohnehin nicht stattfinden konnte). Aus
diesem Grund sollten Überlegungen, wie sie im Zivilrecht für Elementarereignisse
und Kriege gelten (z.B. bei Todesklärungen, Verjährung von
Schadenersatzansprüchen u.ä.) auch im Strafrecht berücksichtigt
werden. Außerdem ortete Forsthuber Reformbedarf bei jeden Paragraphen
des Strafgesetzbuches, die die gerichtliche Zuständigkeit
bei Auslandstaten regeln. Denn gewisse Auslandsstraftaten wie Pass-
oder Geldfälschung werden nach wie vor nicht nach dem Tatort-Recht, sondern
nach den Bestimmungen des österreichischen Strafgesetzbuches verhandelt,
wenn sie vor österreichische Gerichten kommen. Es
sei nicht einzusehen, warum beispielsweise das Verbrechen "Völkermord",
zu dessen Verfolgung ohnehin jeder Staat verpflichtet sei und das gemäß
der Europäischen Menschenrechtskonvention sogar vom Rückwirkungsverbot
ausgenommen werden kann, nicht zu diesen Delikten gehört.
Landesgerichtspräsidentin Ulrike Psenner
betonte die Nützlichkeit des Dialogs zwischen Rechts- und Geschichtswissenschaft,
für 2006 ist eine Fortsetzung der gemeinsamen Veranstaltungen der Fachgruppe
Strafrecht und der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz vorgesehen.
Die ReferentInnen
Winfried R. GARSCHA (DÖW) ist Ko-Leiter der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz,
Sabine LOITFELLNER (Anlaufstelle der IKG Wien), Eva HOLPFER (Wien/Mailand)
und Peter EIGELSBERGER (Linz) sind MitarbeiterInnen der Projekts "Justiz
und NS-Gewaltverbrechen in Österreich" der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz.
Friedrich FORSTHUBER ist Richter am OLG Wien; Michael DANEK (OGH) ist Stellvertretender
Obmann der Sektion Höchstgerichte der Österreichischen Richtervereinigung
Links: Ausführliche Ankündigung in H-SOZ-KULT Programm Eine illustrierte Fassung des Berichts erschien
in Justiz & Erinnerung
Nr. 11 (Dezember 2005), S. 13 bis 18 PDF-Download 1,5 MB
1. 12. 2005
LG Wien
Großer Schwurgerichts- saal
Landesgerichts- präsidentin Ulrike Psenner
Richter Friedrich Forsthuber
im Gespräch mit dem Publikum