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Die Kartei der Wiener Volksgerichtsprozesse 1945-1955. Die EDV-Erfassung und wissenschaftliche Auswertung der Kartei der am Volksgericht Wien zwischen 1945-1955 geführten gerichtlichen Voruntersuchungen Die Volksgerichtsbarkeit in Österreich (1945-55) Es hat sich gezeigt, dass die österreichische Volksgerichtsbarkeit nicht nur in Zusammenhang mit der Tätigkeit der von der Bundesregierung eingesetzten österreichischen Historikerkommission ins Zentrum des Interesses gerückt ist, sondern, dass sich ebenfalls in den letzten Jahren an den österreichischen Universitäten eine wachsende Zahl von Studentinnen und Studenten mit dem justizgeschichtlichen Themenkomplex »Österreichische Volksgerichtsbarkeit« auseinander gesetzt hat. Die Gründe dafür sind, dass das Wiener Volksgericht in wesentlich größerem Umfang als die anderen Volksgerichte auch Verbrechen im Osten und auf dem Balkan sowie »Schreibtischverbrechen« beispielsweise bei der Organisation des Holocausts verfolgte. Daher sind die im Laufe der gerichtlichen Untersuchungen gesammelten Dokumente, Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen beispielsweise eine wichtige - bisher jedoch relativ wenig genutzte - historische Quelle für eine Reihe von Themenstellungen der historischen Forschung. Dazu zählen insbesondere die zur Zeit intensiv diskutierten Fragen der Rückgabe »arisierter« Gegenstände und Vermögenswerte sowie der Entschädigung der »Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter«. Im Rahmen der justiziellen Auseinandersetzung mit der NS-Herrschaft nach 1945 nahm die österreichische Volksgerichtsbarkeit eine Sonderstellung ein, da die Volksgerichte, die bei den Landesgerichten am Sitz der Oberlandesgerichte in Wien, Graz (mit ständigen Außensenaten in Leoben und Klagenfurt), Linz und Innsbruck eingerichtet worden waren, nicht nur über nationalsozialistische Verbrechen urteilten, sondern auch Teil des Entnazifizierungsprozesses waren. Die Volksgerichtsverfahren wurden nach der österreichischen Strafprozessordnung geführt, wobei die österreichische Volksgerichtsbarkeit selbst eine Zwischenstellung zwischen Sondergerichtsbarkeit und ordentlicher Gerichtsbarkeit einnahm. Die Grundlage für die Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen bildeten dabei das »Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz)« und das »Verfassungsgesetz vom 26. Juni 1945 über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten (Kriegsverbrechergesetz)«. Neben der Mitgliedschaft und der Übernahme bestimmter (leitender) Funktionen in der illegalen NSDAP beziehungsweise im Staatsapparat des NS-Regimes und Verstößen gegen die Registrierungsbestimmungen von Nationalsozialisten bei den Entnazifizierungskommissionen waren die Tatbestände der »Arisierung« von Vermögenswerten und Wohnungen jüdischer Bürgerinnen und Bürgern, der »Denunziation« und der Kriegsverbrechen sowie sonstiger nationalsozialistischer Tötungsverbrechen (Misshandlung und Verletzung der Menschenwürde politischer Gegnerinnen und Gegner des NS-Regimes, Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti und ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter) Gegenstand volksgerichtlicher Ermittlungsverfahren. Das größte und wichtigste dieser Gerichte - sowohl hinsichtlich der Anzahl der verhandelten Fälle als auch in Hinblick auf die historische Rolle der abgeurteilten Personen - war das Volksgericht am Landesgericht für Strafsachen Wien, das für die gesamte sowjetische Besatzungszone zuständig war. Um dies in eine Größenordnung zu bringen, sei gesagt, dass von den 136.829 Personen, gegen die wegen mutmaßlicher NS-Verbrechen eine gerichtliche Voruntersuchung eingeleitet wurde, rund 38,4% der Untersuchungsverfahren (nämlich 52.601) am Landesgericht für Strafsachen Wien geführt wurden. Von den insgesamt 23.477 Urteilen ergingen 47,8 % (nämlich 11.230) durch das Wiener Volksgericht. Die phonetische Kartei am Landesgericht für Strafsachen Wien Einen zentralen Stellenwert nimmt in diesem Zusammenhang die im Landesgericht für Strafsachen Wien aufbewahrte Kartei der vor dem Volksgericht Wien zwischen 1945-1955 eingeleiteten Verfahren ein. Die bereits vorher erwähnten 52.601 von der Staatsanwaltschaft Wien zwischen 1945 und 1955 gerichtsanhängig gemachten Volksgerichtsverfahren wurden von der Einlaufstelle des Landesgerichtes für Strafsachen Wien in einer eigenen, phonetisch aufgebauten Kartei mit rund 40.000 Karteikarten (24 Karteischuber) erfasst. Diese Kartei befindet sich heute nicht mehr in der Einlaufstelle, sondern in einem eigenen Raum, der so genannten »Alten Kartei«, im 2. Stock des Landesgerichtes Wien. Wichtige Voraussetzungen für die Benutzung der Kartei sind sowohl die Kenntnis der Kurrentschrift als auch die Kenntnis des prinzipiellen Aufbaus eines phonetischen Registers. Die Karteikarten beinhalten in der Regel folgende Informationen: - Name - Vorname (falls der Vorname nicht bekannt war, wurde ein »N.« auf der Karteikarte vermerkt) - akademischer Titel (falls vorhanden) - Geburtsdatum (bis auf wenige Ausnahmen) - die Geschäftszahl(en) des Gerichtes (nicht aber der Staatsanwaltschaft), unter denen das Verfahren eingeleitet wur-de - die Paragraphen, derentwegen das Verfahren eingeleitet wurde (NS-Verbotsgesetz, Kriegsverbrechergesetz, Strafgesetz, Wahlgesetz, wobei in manchen Fällen der Paragraph des Verbotsgesetzes beziehungsweise des Kriegsverbrechergesetzes nicht angeführt ist). Auslieferungsverfahren sind eigens gekennzeichnet. Sofern das Verfahren gegen eine nicht greifbare Person nach § 412 StPO abgebrochen wurde, findet sich in den meisten Fällen ein diesbezüglicher Vermerk auf der Karteikarte und zusätzlich die Geschäftszahl, unter welcher das Verfahren gegen diese Person fortgesetzt wurde. Weiters sind Einstellungen des jeweiligen Verfahrens gemäß § 90 StPO (Zurücklegung der Anzeige), gemäß § 109 StPO (Einstellung der Voruntersuchung), gemäß § 224 StG (Tod des Beschuldigten) und gemäß § 227 StPO (Rücktritt von der Anklage) auf der Karteikarte vermerkt. Angeführt sind ebenfalls Faktenausscheidung(en) von einem Volksgerichts- zu einem »ordentlichen« Strafverfahren (mit Angabe der Geschäftszahl und den entsprechenden Paragraphen des Strafgesetzes oder des Wahlgesetzes) sowie Ausscheidung(en) eines Verfahrens gemäß § 57 StPO und die Einleitung des Auslieferungsverfahrens gemäß § 59 StPO. Somit versammelt die Kartei alle wesentlichen Informationen (bis auf die geografische Zuordnung), die für die gezielte Recherche nach einem Gerichtsverfahren erforderlich sind. Der Ablauf des Projektes Anfang 1999 wurde mit dem so genannten »Pilotprojekt« zur probeweisen EDV-Erfassung der Kartei begonnen. Zwei Mitarbeiterinnen des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes erfassten dabei rund 1.500 Karteikarten in einer ersten »provisorischen« Datenbank. Sie bestand vorerst nur aus den Feldern »Nachname«, »Vorname«, »Geburtsdatum«, »Paragraphen« und »Gerichtszahl(en)« sowie einem Feld für die ID-Nummer. Die zahlreichen Angaben auf den Karteikarten machten jedoch eine detailliertere Untergliederung der Eingabefelder beziehungsweise eine Umstrukturierung der gesamten Datenmaske notwendig. Ein weiteres wichtiges Ziel dabei war die Erleichterung beziehungsweise die Vereinheitlichung der Dateneingabe. Nachdem die Genehmigung zur EDV-Erfassung der Kartei seitens des Präsidiums des Landesgerichtes für Strafsachen Wien für weitere Projektmitarbeiterinnen erteilt worden war, konnten ab Anfang Juni 1999 sechs ständige Mitarbeiterinnen in Zweierteams mit der systematischen EDV-Erfassung der Karteikarten beginnen. Für die Dateneingabe der Karteikarten wurde ein Arbeitsplatz im Raum der »Alten Kartei« zur Verfügung gestellt. Aufgrund der ständig steigenden Datenmenge wurde der zu Beginn verwendete Laptop Mitte Juni 1999 gegen ein Standgerät ausgetauscht. Im Rahmen des Projektes war es weiters notwendig, dass sich jede Mitarbeiterin mit dem besonderen Charakter und den Anforderungen der Kartei auseinandersetzte. Dazu zählten unter anderem die Kenntnis der Kurrentschrift, die Prinzipien des Aufbaus einer phonetischen Kartei, die Aneignung des Inhaltes der betreffenden Gesetze der österreichischen Volksgerichtsbarkeit (NS-Verbotsgesetz in den Fassungen 1945 und 1947, Kriegsverbrechergesetz in den Fassungen 1945 und 1947, Volksgerichts- und Vermögensverfallsgesetz 1945, Wahlgesetz 1945) sowie die Kenntnis der zu diesen Gesetzen erlassenen Verordnungen und Durchführungsbestimmungen, des alten (bis 1974 gültigen) Strafgesetzes und der Strafprozessordnung. Im Zeitraum von Juni bis Mitte Dezember 1999 wurden - mit einer einmonatigen Pause im September - insgesamt 38.675 Karteikarten in Form von Personendatensätzen EDV-mäßig angelegt. Im Laufe dieser Karteikartenerfassung wurde die Datenmaske immer wieder verändert und den Angaben auf den Karteikarten angepasst. So wurden beispielsweise für die Paragraphen des Wahlgesetzes eigene Paragraphenfelder angelegt. Anfang Jänner 2000 stellte das Landesgericht für Strafsachen Wien dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und der Zentralen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz das Verfahrensregister (Vr-Register) und das Hauptverhandlungsregister (Hv-Register) - die eine zusätzliche zu überprüfende Quelle darstellen - zur Verfügung. Anhand des Vr-Registers werden derzeit die so genannten »Basisdaten« (die erfassten Karteikarten) einer Revision beziehungsweise Bearbeitung unterzogen. Im Anschluss daran ist eine nochmalige Überarbeitung der Datenbank anhand des Hv-Registers geplant. Für die derzeit stattfindende Revision der Datenbank war eine neuerliche Erweiterung der Datenmaske bzw. der gesamten Datenbank notwendig, da mit Hilfe der beiden Register weitere wichtige Informationen zur Verfügung stehen und diese erfasst bzw. bearbeitet werden müssen. Im Zuge von mehreren Gesprächen und Diskussionen mit Dr. Winfried Garscha und Markus Koppenberger wurde für die Datenbank eine Vereinheitlichung der Terminologie, eine Kategorisierung der Verfahrensteile und eine Verknüpfung zwischen Personen, Verfahren und Urteilen beziehungsweise eine Verknüpfung zwischen mehreren Verfahrensnummern und Personen erörtert und vereinbart. Die Umgestaltung der dBASE Datenbank (Lotus Approach Maske) in eine SQL-Datenbank (html-Maske) beziehungsweise die Übertragung der Daten erfolgte durch die beiden Mitarbeiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes Markus Koppenberger und Dr. Gerhard Ungar. Der wesentlichste Unterschied zwischen den beiden Datenbanken ist, dass die bereits in Fußnote 6 beschriebene dBase Datenbank (Lotus Approach Maske) den Anforderungen der Karteikarten entspricht und daher »personenbezogen« ausgerichtet ist. Das heißt, für jede Person gibt es einen Datensatz, in dem alle der Person anhängigen Verfahren aufscheinen. Im Unterschied dazu ist die neue SQL-Datenbank (html-Maske) auf die Informationen des Vr-Registers und des Hv-Registers ausgerichtet. Das Vr-Register ist chronologisch nach den fortlaufenden Geschäftszahlen aufgebaut und somit »verfahrensbezogen«. Das heißt, jedes Verfahren bildet einen Datensatz, wobei die jeweiligen zusammengehörigen Verfahren miteinander verknüpft sind. Jeder Datensatz besteht aus einer Verfahrensseite , einer Personenseite , einer Detailseite und einer Urteilsseite . Die Suche innerhalb der Datenbank erfolgt derzeit nach dem Verfahren durch Eingabe der jeweiligen Geschäftszahl oder nach Personen durch Eingabe des betreffenden Namens. Für die zukünftige Forschung wird die Datenbank so bearbeitet werden, dass sie den datenschutzrechtlichen Bestimmungen und den Anforderungen der Benützerinnen und Benützer entspricht, das heißt konkret: Abfragbarkeit nach einzelnen Verfahren und Straftatbeständen. Da die Erstellung der vorläufig endgültigen Fassung der Datenmaske jedoch viel Zeit und Arbeitsaufwand benötigte, konnte mit der Revision der so genannten »Vg-Kartei Wien« erst später begonnen werden als ursprünglich vorgesehen. Anhand der Datenbank wurden im April 2000 erste Probeläufe in Hinblick auf ihre EDV-mäßige, technische und praktische Anwendbarkeit durchgeführt. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Stand: August 2000) wurden rund 6.500 Datensätze von vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern überprüft beziehungsweise bearbeitet. Diese erste Arbeitsphase hat gezeigt, dass mit der SQL-Datenbank in ihrer derzeitigen Fassung effizient gearbeitet werden kann. Die wissenschaftliche Auswertung der »Vg-Kartei Wien« Da sich die Vorbereitungen für die wissenschaftliche Auswertung der Datenbank derzeit noch im Planungsstadium befinden, werden in diesem Zusammenhang nur einige der vorläufig forschungsleitenden Fragestellungen wie folgt angeführt: - Gegen wie viele Personen (männlich? weiblich? unbekannte Täter?) wurden Verfahren wegen welcher Delikte eingeleitet? - Wie viele Verfahren gab es bezüglich welcher Paragraphen des Verbotsgesetzes, des Kriegsverbrechergesetzes, des Wahlgesetzes, des Strafgesetzes, des Volksgerichtsverfahrens und Vermögensverfallsgesetzes beziehungsweise anderer relevanter Gesetze (z. B.: Sprengstoffgesetz)? - Wie sieht die zeitliche Verteilung der Verfahren von 1945 bis 1955, jeweils bezogen auf die einzelnen Delikte, aus? (Überprüft werden soll insbesondere die Hypothese, dass nach 1949/50 fast ausschließlich Tötungs- und schwere Misshandlungsdelikte verfolgt wurden und, dass die Mehrzahl der Verfahren in den Jahren 1945-1947 eingeleitet wurde.) - Wie sieht die zeitliche Verteilung der Auslieferungsverfahren aus (einschließlich jener Delikte, derentwegen derartige Verfahren geführt wurden)? - Bei wie viel Prozent der gesamten Volksgerichtsverfahren gibt es Urteilsaufhebungen, Einstellungen, Fortsetzungen, Faktenausscheidungen? - Wann und in welchem Ausmaß ergingen Urteile (Waren diese rechtskräftig beziehungsweise wie sieht die zeitliche Verteilung der Urteilsaufhebungen aus)? Der Wert der Datenbank Der Wert der Datenbank liegt unter anderem darin, dass durch dieses Projekt einer der wichtigsten in Wien vorhandenen Quellenbestände zur Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Aufarbeitung durch die Zweite Republik für die zeit- und justizgeschichtliche Forschung erschlossen wird. Themenbezogene Archivrecherchen für künftige Arbeiten, wie Diplomarbeiten, Dissertationen und Publikationen können durch die gezielte Abfrage der Daten und deren wissenschaftlicher Auswertung beträchtlich erleichtert und verkürzt werden. Die Datenbank bietet weiters auch die Möglichkeit, spezifische Informationen über die jeweiligen Verfahren und Tatbestände elektronisch abrufen zu können. Sie stellt somit ein effizientes Findhilfsmittel für weitere Forschungen auf diesem Gebiet dar und wird vor allem StudentInnen und WissenschafterInnen (besonders aus den Bundesländern und dem Ausland) Vorteile in Bezug auf den Zugang und die Auffindbarkeit der Quellen und Daten bieten. Abschließend möchten wir dem Bundesministerium für Justiz, der Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien, dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, dem United States Holocaust Memorial Museum (Washington), Yad Vashem (Jerusalem), der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Verbände und Widerstandskämpfer Österreichs sowie Univ.-Prof. Dr. Felix Kreissler für ihre bisherige finanzielle Unterstützung bei der Erstellung dieser Datenbank danken. |
von: Andrea Steffek / Susanne Uslu-Pauer erschienen in "Justiz und Erinnerung" Nr. 3 |
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