www.nachkriegsjustiz.at
   
 
Ermittlungen wegen NS-Verbrechen durch die österreichische Justiz 1956-2008

Während die Tätigkeit der österreichischen "Volks- gerichte" (1945-1955) zunehmend auch international anerkannt wird, konzentriert sich die Kritik auf die wenigen, oft zweifelhaften Urteile der 1960er und frühen 1970er Jahre. Nur bruchstückhaft bekannt sind die zahlreichen Ermittlungsverfahren ohne Anklageerhebung, deren zum Teil umfangreiche Akten Informationen über Tatkomplexe, Täter und Opfer enthalten.

Ausgangslage
Österreich sah und sieht sich international mit dem Vorwurf konfrontiert, insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren zu wenig für die Ausforschung und Bestrafung österreichischer NS-Täter unternommen zu haben. Zwar fand – nicht zuletzt dank der Bemühungen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz – die Tätigkeit der Volksgerichte (1945-1955) inzwischen auch international Anerkennung. Kritisch vermerkt wird jedoch, dass außer der späten Anklage gegen Heinrich Gross (1999) seit 1975 überhaupt keine Prozesse stattfanden. Kaum bekannt ist, dass Hunderte weitere Verfahren eingeleitet wurden, die – oft erst nach mehrjährigen, intensiven Ermittlungen – eingestellt wurden. Die eher zufällige Entdeckung des Grazer Majdanek-Verfahrens (1963-1973) zeigte, in welchem Ausmaß die Akten dieser "nicht geführten Prozesse" Informationen über Tatkomplexe, Täter und Opfer enthalten. Die bisherigen Recherchen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz ergaben, dass der Umfang der Akten dieser erst zu einem geringen Teil von den jeweiligen Landesarchiven übernommenen Verfahren von wenigen Zentimetern bis über einen Laufmeter reicht. Ziel des Projekts ist eine Komplett- Erfassung aller nach 1956 in Österreich geführten Verfahren wegen nationalsozialistischer Verbrechen, und, soweit rechtlich möglich, deren Digitalisierung. Dadurch soll dieser Quellenbestand, der der zeit- und rechtsgeschichtlichen Forschung innerhalb und außerhalb Österreichs weitgehend unbekannt ist, erschlossen und – unter Beachtung der gesetzlichen Auflagen – zugänglich gemacht werden.

Pilotprojekt – Teilprojekt I (Wien)
Ein erstes Pilotprojekt, das ab 2011 mit finanzieller Unterstützung des US Holocaust Memorial Museums (USHMM) durchgeführt wurde, ergab, dass tatsächlich für die Holocaust-Forschung relevante Akten in größerem Umfang in den Aktenlagern der Gerichte liegen, die von der Forschung bisher unbeachtet blieben, was eine Kompletterfassung aller nach 1956 in Österreich geführten Verfahren wegen nationalsozialistischer Verbrechen nahe legt. Diese Arbeit wurde noch 2011 begonnen – am Landesgericht Wien sowie, da ein Teil der Bestände bereits an das zuständige Landesarchiv abgegeben wurde, im Wiener Stadt- und Landesarchiv. Zusätzlich erfolgt, soweit rechtlich möglich, die Digitalisierung der Akten; an deren Finanzierung beteiligt sich auch die israelische Gedenkstätte Yad Vashem. Das Teilprojekt Wien wurde 2014 abgeschlossen. Die nur mit beträchtlichem Rechercheaufwand aufzufindenden Untersuchungen seitens der Ermittlungsbehörden in den Bundesländern werden vom Zukunftsfonds der Republik Österreich gefördert (Zukunftsfondsprojekt P14-1755: "Erfassung und Digitalisierung von gerichtlichen Ermittlungen wegen NS-Verbrechen 1956-2010 an Gerichtsstandorten außerhalb Wiens"); USHMM und Yad Vashem beteiligen sich auch im Teilprojekt Bundesländer an der Finanzierung der Digitalisierung.

Teilprojekt II: Bundesländer
Die nur mit beträchtlichem Rechercheaufwand aufzufin- denden Untersuchungen seitens der Ermittlungsbehörden in den Bundesländern sind Gegenstand des Teilprojekts II. Das Projekt wird von November 2014 bis November 2016 durchgeführt (Projektleitung: Dr. Winfried Garscha, Sach- bearbeiter: Mag. Siegfried Sanwald).

"Dauernd aufzubewahren"
Das Projekt baut auf den Forschungs- und Dokumentations- arbeiten der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz zur Tätigkeit der österreichischen Volksgerichte 1945-1955 auf. Die Akten dieser zur Aburteilung von Verbrechen nach dem NS-Verbots- gesetz und dem Kriegsverbrechergesetz geschaffenen besonderen Gerichtsbarkeit wurden von der österreichischen Justiz als "dauernd aufzubewahren" klassifiziert und in der Regel in eigenen Registern erfasst. Es war den Landesarchiven daher möglich, sie geschlossen zu übernehmen und als eigene Bestände zu führen.

Benützungsbedingungen am Standort Washington
Als Ergebnis der mit dem US Holocaust Museum (Washing- ton) an den Standorten Wien und Linz durchgeführten Erfassung und Mikroverfilmung holocaustrelevanter Verfahren der Volksgerichte Wien und Linz existiert nunmehr ein für Forschende in den USA zugänglicher Quellenkorpus in Form von Mikrofilmkopien im Archiv des USHMM. Dies versetzt amerikanische Forscherinnen und Forscher, die sich in weit größerem Ausmaß als jene anderer Länder mit dem Umgang Österreichs mit der NS-Vergangenheit beschäftigen, in die Lage, die Dokumente der österreichischen Volksgerichts- barkeit unmittelbar einzusehen und so einen wesentlich umfassenderen Einblick in die Breite der justiziellen Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht in Österreich zu gewinnen, als dies bisher möglich war. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass den Benützerinnen und Benützer nicht nur die Einhaltung der österreichischen gesetzlichen Bestimmungen zur Auflage gemacht wird, sondern sie hinsichtlich der Bewilligung zur Einsichtnahme im USHMM direkt an die jeweiligen Originalarchive verwiesen werden.

Der Nutzen für die österreichische Geschichtswissenschaft
Von Relevanz für österreichische Forscherinnen und Forscher ist in erster Linie die Tatsache, dass erst durch die in diesem Projekt geleistete Grundlagenarbeit die in den Registern der Justiz nicht eigens ausgewerteten staatsanwaltschaftlichen Vorerhebungen und gerichtlichen Voruntersuchungen wegen NS-Verbrechen der vergangenen Jahrzehnte aufgelistet und deren Akten auffindbar gemacht werden.

 




April 2012
aktualisiert:
März 2015