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Die Rehabilitierung von Kriegsdienstverweigerern am Beispiel der Zeugen Jehovas


Seit einigen Jahren berichten die Zeitungen gelegentlich über die Rehabilitierung von Kriegsdienstverweigerern bzw. von Personen, die durch die Militärjustiz des Dritten Reiches wegen Handlungen zum Tode verurteilt wurden, die aus der Sicht jenes Regimes Verbrechen waren, uns heute aber als anerkennenswerte Widerstandshandlungen erscheinen. Urteile aus jener Zeit werden von der heutigen Justiz aufgehoben. Zu der moralischen Rehabilitierung durch die Geschichte, die nicht von allen geteilt wird, tritt nun mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit die offizielle juristische Feststellung hinzu, dass jene Urteile Unrecht waren.

Angefangen hat diese Bewegung zur strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung 1996 mit Urteilsaufhebungen durch das Landgericht Berlin zu Gunsten der bekannten Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, Wilhelm Canaris, Hans Oster, Hans von Dohnanyi u. a. Durch das Landgericht Berlin wurden auch katholische Geistliche rehabilitiert, die sich regimekritisch geäußert hatten und dafür sterben mussten, wie Bernhard Lichtenberg, Jakob Gapp, Karl Leisner und Otto Neururer, die inzwischen vom Papst selig gesprochen wurden. Als Rechtsgrundlage für diese Urteilsaufhebungen diente das Berliner »Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts auf dem Gebiete des Strafrechts« von 1951. Solche Gesetze wurden nach dem Krieg in allen Besatzungszonen Deutschlands erlassen. Teilweise, wie in Bayern, führten sie zur automatischen Urteilsaufhebung, so dass es keines richterlichen Beschlusses mehr bedurfte.

Ausgelöst wurde diese Rückbesinnung auf das Justizunrecht in Deutschland durch die justizgeschichtliche Forschung. 1987 erschien das umfangreiche Werk von Manfred Messerschmidt und Fritz Wüllner über »Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus«. Ihm folgte 1991 (2. Auflage 1997) der grundlegende Forschungsbericht von Wüllner über »Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung«, in dem nachgewiesen wurde, mit welcher Brutalität die Gerichte damals »durchgegriffen« hatten und damit den Zielen des Nationalsozialismus dienten. Dahinter stand die Einsicht, dass der Krieg Hitlers ein verbrecherischer Krieg war und dass diejenigen, die ihn nicht mitmachten, zu Unrecht sterben mussten, seien es Verweigerer, Deserteure oder Personen, die auf sonstige Weise die »Wehrkraft zersetzten« und gem. § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) meistens mit dem Tode bestraft wurden. Aufgrund dieser Forschungen entschied das deutsche Bundessozialgericht 1991, dass die Witwe eines Hingerichteten Rente nach dem deutschen Bundesversorgungsgesetz verlangen könne, was bis dahin in der Regel abgelehnt worden war. Damit war das Eis gebrochen und lag es nahe, die juristische Geltung jener Kriegsgerichtsurteile zu hinterfragen und nach Rechtsgrundlagen für ihre Aufhebung zu suchen.

Die Welle der Urteilsaufhebungen ergriff bald auch Österreich, das in Franz Jägerstätter ein durch die Forschungen von Erna Putz inzwischen weltberühmt gewordenes Todesopfer der NS-Militärjustiz hat. Jägerstätter, ein Kleinbauer aus dem Innviertel, wurde 1943 als Wehrdienstverweigerer vom Reichskriegsgericht in Berlin zum Tode verurteilt, weil er es als aufrechter Christ ablehnte, in Hitlers Krieg, dessen Unrecht er in voller Klarheit erkannte, den Dienst mit der Waffe zu leisten. In seinem Credo »Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen!« stand er den Zeugen Jehovas nahe, zu denen er auch persönlichen Kontakt hatte ohne ihnen anzugehören. Auf Antrag der Angehörigen Jägerstätters an das Landgericht Berlin hob dieses mit Beschluss vom 7. 5. 1997 das Todesurteil auf.

Durch die deutschen Urteilsaufhebungen ermutigt bemühte sich in Kärnten der ÖGB-Landesbildungsvorsitzende Vinzenz Jobst um die Aufhebung des Todesurteils gegen den Wehrdienstverweigerer Anton Uran durch die österreichische Justiz. Jobst war als Heimatforscher auf das Schicksal dieses Mannes gestoßen, eines einfachen Holzarbeiters, der ein überzeugter Anhänger der Zeugen Jehovas geworden war und gemäß den Prinzipien dieser Sekte den Kriegsdienst verweigerte. Wie Jägerstätter und andere sah er bewusst und mutig dem Tode durch das Kriegsgericht entgegen, obwohl es einfach gewesen wäre, den Weg der Massen zu gehen. Jobst fand heraus, dass es auch in Österreich ein aus der Besatzungszeit stammendes, längst in Vergessenheit geratenes Gesetz vom 3. 7. 1945 »über die Aufhebung von Strafurteilen und die Einstellung von Strafverfahren (Aufhebungs- und Einstellungsgesetz)« gibt , wonach bei Fehlen anderer Zuständigkeit das Landesgericht Wien auf Antrag oder von Amts wegen mit Beschluss feststellt, dass eine Verurteilung »als nicht erfolgt gilt«, wenn sie u. a. auf der KSSVO beruhte und die »Handlung gegen die nationalsozialistische Herrschaft [...] gerichtet war«. Auf Betreiben des Klagenfurter Rechtsanwaltes Erich-Peter Piuk und des Bruders des Hingerichteten sah das Landesgericht Wien diese Voraussetzungen bei Uran unproblematisch als erfüllt an und hob am 3. 6. 1997 dessen Verurteilung durch das Reichskriegsgericht auf.

In der gesetzlichen Voraussetzung, dass die Handlungen gegen die NS-Herrschaft gerichtet sein mussten, liegt für die Zeugen Jehovas ein Problem, denn die Zeugen verweigern den Wehrdienst gegenüber jedem Staat. Es ging ihnen auch im Dritten Reich demnach nicht um die Ablehnung des Regimes, sondern nur um die Einhaltung der Gebote Gottes. Anders als Jägerstätter, der im grenzenlosen Machtanspruch Hitlers das Unheil erblickte, das Gottes Geboten widersprach, betrachteten sie sich als politisch neutral. Sie legten auch in den Konzentrationslagern Wert darauf, nicht als politische Häftlinge zu gelten. Bis in die Mitte der 90er Jahre wollten sie nicht als Widerstandskämpfer angesehen werden, obwohl etwa 2000 Zeugen Jehovas unter Hitler sterben mussten, weil sie nicht bereit waren sich ihm zu beugen. Davon starb etwa die Hälfte durch Urteile der Militärgerichte, die übrigen in Konzentrationslagern.
Die Einstellung der Zeugen Jehovas zu ihrer eigenen Rolle gegenüber dem Nationalsozialismus änderte sich im Anschluss an ein Internationales Seminar über die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Holocaust Memorial Museum in Washington im September 1994. Die Watch Tower Society trat 1996 mit der Videodokumentation »Standhaft trotz Verfolgung - Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime« an die Öffentlichkeit. Seit September 1997 rief auf verschiedenen österreichischen Stadtplätzen unter dem Motto »Vergessene Opfer der NS-Zeit« eine nachgebaute KZ-Baracke zum Gedenken an diese Leiden der Zeugen Jehovas auf. Sie haben verstanden, dass sie durch ihre apolitische Haltung in Wirklichkeit eben nicht neutral waren, sondern unvermeidlich Widerstand gegen Hitler leisteten. Aus der Sicht des Regimes verließen sie die »deutsche Volksgemeinschaft« und setzten der Pflicht zur »totalen völkischen Einsatzbereitschaft« Widerstand entgegen. Ihre »wehrfeindliche Gesinnung« mit der Folge der Verweigerung war ein Verbrechen nach § 5 KSSVO, für das die weltanschaulichen Beweggründe wegen ihrer besonderen Eignung zur Wehrkraftzersetzung sogar straferschwerend waren.
Diese Besinnung auf die Widerstands- und Opferrolle der Zeugen Jehovas findet auch in der kürzlich veröffentlichten Biographie des Arbeiters Leopold Engleitner aus Oberösterreich Ausdruck, der nach dem Aufenthalt in drei Konzentrationslagern schließlich mit knapper Not mit dem Leben davonkam.

Es liegt nahe, dass nicht nur Anton Uran nachträglich Gerechtigkeit widerfährt, sondern auch den anderen Verurteilten und besonders den Zeugen Jehovas. Diese stellen für die weitere Anwendung des österreichischen Aufhebungsgesetzes eine eigene, große Gruppe dar, während die anderen Opfer vermutlich Einzelschicksale ohne gemeinsamen, organisierten Gruppencharakter sind. Wie berichtet wird, sind von den 550 österreichischen Bibelforschern (Stand 1938) 145 durch die NS-Gewaltherrschaft umgekommen, davon wurden über 50 wegen Kriegsdienstverweigerung bzw. Wehrkraftzersetzung hingerichtet. Teilweise, wie auch bei Anton Uran, sind die Urteile unauffindbar und sind nur die Hinrichtungen bekannt.

Für die justizgeschichtliche Forschung ist es eine wichtige Aufgabe, diese Fälle unter Erforschung aller denkbaren Belege wissenschaftlich aufzuarbeiten, um einmal das Schicksal dieser Menschen und die Blutspur des Regimes zu dokumentieren und zum anderen die Urteilsaufhebungen ermöglichen zu können.

Aus dem Kreis der Zeugen Jehovas wurden bisher vom Landesgericht Wien 7 Personen auf Antrag rehabilitiert:
1. Anton Uran aus Techelsberg/Kärnten, Beschluss vom 3. 6. 1997
2. Gregor Wohlfahrt jun. aus St. Martin/Kärnten, Beschluss vom 5. 8. 1998
3. Gottfried Herzog aus Straßwalchen/Salzburg, Beschluss vom 24. 9. 1998
4. Rudolf Redlinghofer aus Krems/Niederösterreich, Beschluss vom 14. 10. 1998
5. Gregor Wohlfahrt sen. aus St. Martin/Kärnten, Beschluss vom 18. 11. 1998
6. Gerhard Steinacher aus Wien-Meidling, Beschluss vom 13. 11. 1998
7. Helene Delacher aus Burgfrieden/Lienz, Beschluss vom 8. 9. 1999
Die Verurteilung von Helene Delacher, die als Aufräumerin im Dienst der Stadt Innsbruck arbeitete, mag überraschen, denn sie wurde nicht zum Kriegsdienst eingezogen. Ihr todeswürdiges Verbrechen der Wehrkraftzersetzung bestand darin, dass sie 1943 einige Exemplare des »Wachtturms« über den Brenner schmuggeln wollte, um sie ihrem Südtiroler Verlobten weiterzugeben. Sie wurde bei diesem Versuch von der Grenzpolizei gefasst. Der Besitz des »Wachtturms« war strengstens verboten. In einer dieser Nummern hieß es dazu noch, in »Nazideutschland herrsche Blutdiktatur und blutiger Terror«. Als wollte die NS-Militärjustiz diese Behauptungen unter Beweis stellen, wurde auch Helene Delacher vom Reichskriegsgericht gem. § 5 KSSVO zum Tode verurteilt und am 12. 11. 1943 in Berlin Plötzensee enthauptet.

Ein weiterer Aufhebungsantrag zu Gunsten von Franz Mattischek aus Wolfsegg, der wegen Wehrdienstverweigerung am 10. 11. 1939 vom Reichskriegsgericht verurteilt und am 1. 12. 1939 hingerichtet wurde, ist zur Zeit beim Landesgericht Wien anhängig.

Im September 1999 wurde vom Landesgericht Wien ein Antrag auf Rehabilitierung von Wilhelm Letonja abgelehnt, weil er als geborener Steirer, der in Frankreich lebte, während des Krieges die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hatte, das Aufhebungsgesetz aber nur für österreichische Staatsbürger gilt. Bei Letonja ist besonders bemerkenswert, dass er zunächst nicht die Einberufung zum Kriegsdienst verweigerte, sondern die Armee erst verließ, nachdem er zu einem Zeugen Jehovas geworden war. Er wollte aus Paris in die Schweiz flüchten, wurde aber an der Grenze von der deutschen Polizei aufgegriffen, vom Reichskriegsgericht wegen Desertion verurteilt und hingerichtet.

In Deutschland haben die Berliner Urteilsaufhebungen und die Diskussion um diese Vergangenheitsbewältigung dazu geführt, dass der Bundestag am 28. 5. 1998 ein bundeseinheitliches Aufhebungsgesetz beschlossen hat, das am 26. 8. 1998 in Kraft getreten ist. Es sieht eine pauschale Aufhebung aller Strafurteile vor, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen gefällt worden sind. Darunter fallen insbesondere Verurteilungen wegen Kriegsdienstverweigerung, Desertion und Wehrkraftzersetzung. Dieses Gesetz geht nicht nur im Einzugsbereich weiter als das österreichische Aufhebungsgesetz, sondern es macht auch die Anwendung leichter.

In Österreich haben am 22. 4. 1999 die Abgeordneten Andreas Wabel und Genossen (Die Grünen) einen Entschließungsantrag im Nationalrat eingebracht, dass durch ein generelles Aufhebungsgesetz, das über den begrenzten Umfang des Aufhebungsgesetzes 1945 hinausgeht, die Rehabilitierung aller Opfer der NS-Militärjustiz und insbesondere der Deserteure, ermöglicht werden soll. Der Antrag lautet, der Nationalrat wolle beschließen:

»Alle Urteile der nationalsozialistischen Militärgerichtsbarkeit gegen Österreicher sind von Amts wegen aufzuheben. Die dafür notwendigen Mittel zur Auffindung der Opfer und Hinterbliebenen und die Aufarbeitung der NS-Militärgerichtsakten sind bereitzustellen.«
Der Justizausschuss hat am 6. 7. 1999 hierüber beraten und folgenden Antrag an den Nationalrat gestellt:

»Die Bundesregierung wird ersucht, ehestmöglich die historische Aufarbeitung der Verurteilungen von Österreichern durch die nationalsozialistische Militärgerichtsbarkeit einschließlich des Reichskriegsgerichtes Berlin, insbesondere nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung, zu veranlassen und zu fördern sowie nach Vorliegen der Forschungsergebnisse für die Herbeiführung von Gerichtsbeschlüssen im Sinne des § 4 des Aufhebungs und Einstellungsgesetzes, StGBl. Nr. 48/1945, und nach Möglichkeit für die Verständigung der Hinterbliebenen hiervon zu sorgen.«

Dieser Antrag wurde vom Nationalrat am 14. 7. 1999 mit den Gegenstimmen der Freiheitlichen angenommen.
Somit ist die justizgeschichtliche Forschung vom Parlament aufgerufen zu klären, welche ÖsterreicherInnen durch die NS-Militärgerichtsbarkeit verurteilt wurden, damit ihre Rehabilitierung nach dem Aufhebungsgesetz 1945 von Amts wegen betrieben werden kann. Hierzu bietet sich besonders die Erforschung der Schicksale der Zeugen Jehovas als der größten Gruppe der Verurteilten mit schon teilweise vorhandenem Archivmaterial an. Die systematische Aufarbeitung und Ergänzung tut not.



von: Reinhard Moos

erschienen in
"Justiz und Erinnerung" Nr. 2