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Ein Verfahren vor dem Außensenat Salzburg:
Aus: Claudia Kuretsidis-Haider / Winfried R. Garscha, Das Linzer Volksgericht. Die Ahndung von NS-Verbrechen in Oberösterreich nach 1945, in: Fritz Mayrhofer/Walter Schuster (Hrsg.), Nationalsozialismus in Linz, Linz 2001, Bd. 2, S. 1550–1553.


Das Verfahren gegen Hermann G.<Anm. 131> (geb. 11. Februar 1912 in Charnov [Chrzanów], Polen) wurde vom Volksgericht Linz an den Außensenat in Salzburg zur Hauptverhandlung abgegeben. Gegenstand der Ermittlungen waren Mißhandlungen von Mithäftlingen u.a. in seiner Funktion als Blockältester im KZ Ebensee. Das Interessante an diesem Verfahren ist nicht in erster Linie der Verlauf, sondern in welchem politischen Klima es stattgefunden hat, denn G. selbst war ein staatenloser Jude aus Polen und sah sich während seiner Hauptverhandlung einem massiven Druck von ehemaligen jüdischen Mithäftlingen ausgesetzt. Das Gericht sowie die Verteidigung prägten das Verhandlungsklima entscheidend mit, indem sie diesen wenigen Zeugen erhebliche Bedeutung beimaßen und Entlastungszeugen für G. nicht berücksichtigten.
G. wurde im Juli 1946 in Salzburg vom CIC verhaftet. Da er als staatenlos galt, war man sich über die Zuständigkeit des Gerichtes offenbar nicht im klaren, weshalb er zunächst im landesgerichtlichen Gefangenhaus in Wien in Haft war, am 20. Juni 1947 jedoch an das LG Linz überstellt wurde.
Die Anklageschrift wurde von Staatsanwalt Größwang am 12. September 1947 ausgefertigt. G. wurde des Mordes und der Mißhandlung gem. § 134 StG und § 3 KVG angeklagt. Die Hauptverhandlung fand am 30. Oktober 1947 beim Volksgerichtssenat in Salzburg unter dem Vorsitz von LGR Dr. Melzer statt.
Im Zuge der Einvernahmen kristallisierte sich heraus, daß dieser Fall sehr typisch war für den NS-Terror, der in den Konzentrationslagern herrschte. Ziel war es, die Häftlinge untereinander auszuspielen im Kampf ums Überleben. Es konnte vorkommen, daß ein Kapo durch die Mißhandelte eines Häftlings nicht nur sich selbst, sondern auch dem Mißhandelten nützte, weil er unter Umständen dadurch sogar zum Überleben des Mißhandelten oder anderer Häftlinge beitragen konnte, indem er ihnen eine Bestrafung durch die SS ersparte. So rechfertigte sich auch G. in seiner Verteidigung:

Auf Vorhalt: Auch unter Glaubensgenossen, unter Juden, kann Verschiedenes vorkommen. Ich bleibe dabei, nie jemandem etwas getan zu haben, ich war nie brutal.
[...]
Ich bleibe dabei, in allen Fällen nur mit Ohrfeigen vorgegangen zu sein; wenn z. B. ein Bewachungsorgan gesehen hat, daß ein Häftling aus einer Decke Fusslappen oder ein sonstiges Bekleidungsstück aus einer Decke hatte, dann wurde er geschlagen und ich dafür verantwortlich gemacht und ebenfalls bestraft.
[...]
Auf Vorhalt: Ich habe in Ebensee keinen einzigen Menschen ermordet, das stelle ich ganz entschieden in Abrede. Knapp bevor die Amerikaner kamen, wurden alle Kapos hingerichtet. Warum hat man dann mir nichts gemacht [...].
Auf neuerlichen Vorhalt: Zum Schluß hatten wir schon keine Schuhe mehr und nichts zum Anziehen, dann stahl Einer dem Anderen die Schuhe, ich habe aber nach wie vor nur Ohrfeigen mit der flachen Hand ausgeteilt. Gestohlen haben so nur solche, die körperlich auf der Höhe waren, die Schwachen haben die Schläge zu sehr gefürchtet.
Da vier weitere Zeugen in dieser Sache befragt werden sollten, die im Lager für jüdische Displaced Persons (DPs) in Linz/Ebelsberg wohnhaft waren, wurde die Hauptverhandlung vertagt und nach Linz verlegt.
G. selbst beantragte am 12. Jänner 1948 beim LG Linz die Auslieferung an die amerikanischen Behörden, da er selbst und die angeblichen Opfer keine österreichischen Staatsbürger waren. Außerdem wären einige der ihm vorgeworfenen Taten nicht in Österreich begangen worden (er war u. a. auch in den Lagern Wolfsburg, Markstätt, Fünfkirchen und Schönberg), weshalb er die Zuständigkeit des österreichischen Gerichtes bestritt. Die Medien nahmen sich natürlich eines Verfahrens dankbar an, in dem jüdische Häftlinge ihren jüdischen Kapo der Mißhandlung und des Mordes beschuldigten. In der "Neuen Zeit" vom 30. Dezember 1947 erschien ein Artikel mit dem Titel Prozeß gegen KZ-Bestie vertagt.
Am 16. Jänner 1948 wurde die Hauptverhandlung beim LG Linz unter dem Vorsitz von OLGR Dr. Zemanek fortgesetzt.
Dem Antrag der Verteidigung auf Ausscheidung jener Fakten, die in Deutschland begangen worden sein sollten, wurde stattgegeben.
Und auch diesmal verteidigte sich G. mit denselben Argumenten:
Wenn jemand einem anderen das Brot weggenommen hat, musste ich ihn als Kapo bestrafen, da ich für die Aufrechterhaltung der Ordnung mitverantwortlich war. Wenn ich so einen Vorfall der SS gemeldet hätte, wäre der Betroffene aufgehängt worden.
Die jüdischen Belastungszeugen gaben an, daß G. und noch weitere jüdische Kapos viele Juden erschlagen hätten (einige Zeugen bezifferten die Zahl von G.s Opfern mit bis zu 600 pro Tag, was unmöglich ist, da die Baracke, in der sich G. befand, nur mit 400 bis 500 Häftlingen belegt war). Nach der Befreiung wären dann ihrerseits viele jüdische Kapos erschlagen worden. G. sagte dazu aus, daß es allein in Ebensee 150 gewesen wären. Ein anderer Belastungszeuge gab wiederum an, daß die Russen die jüdischen Kapos erschlagen hätten. Das Gericht war nicht in der Lage, diesem Durcheinander an teilweise sehr unglaubwürdigen Anschuldigungen Einhalt zu gebieten.
Nach der Hauptverhandlung meldete sich ein weiterer jüdischer Mithäftling, der ebenfalls im KZ Ebensee gewesen war, brieflich beim Armenverteidiger von G. und wandte sich vehement gegen die Aussagen der vier Belastungszeugen (die er als die 4 bezeichnete).
Ich meldete mich während der Verhandlung zum Wort, weil ich die unwahren Angaben dieser "4" vor Gericht widerlegen wollte, ich konnte nur einige Worte zum Gericht sprechen, und als diese "4" merkten, daß ich ihre Angaben widerlegen wollte, hinderten diese "4" mich am Weitersprechen und zogen mich vom Richtertisch weg! (Sie waren, als ich mich meldete, zum Richtertisch mit vorgegangen). Noch drinnen im Saal, sagten mir diese "4" danach, wenn ich weiterspreche oder mich nochmals zum Wort melde, werden sie mich draußen erschlagen!!
Obgleich es natürlich schwer ist zu beurteilen, wie glaubwürdig diese Angaben sind, ist sicher, daß die Verhandlung in äußerst turbulent verlaufen und der Vorsitzende dagegen nicht eingeschritten ist.
Das Urteil wurde am 16. Jänner 1948 ausgesprochen. Es lautete 20 Jahre wegen Mißhandlung von Mithäftlingen u. a. in seiner Funktion als Blockältester im KZ Ebensee.
Im Ergänzungsantrag (eingereicht am 28. Mai 1948) zum Wiederaufnahmeantrag vom 24. Februar 1948 machte der Armenverteidiger keinen Hehl aus seiner eigentlichen Haltung zu dem von ihm Verteidigten. Seine Eingabe strotzte nur so vor antisemitischen Klischees und nationalsozialistischen Vokabeln:
Es sei nicht recht einzusehen [...], warum Juden gegen ihren eigenen Rassengenossen so feindlich eingestellt gewesen sein sollen, daß sie ihn, entgegen der Wahrheit, so schwerer Verbrechen beschuldigen.
Aber abgesehen davon, daß diese selben Bedenken, sogar noch in erhöhtem Ausmaße, auftauchen, wenn man sich frägt, wie es möglich war, daß ein Jude gegen seine eigenen Artgenossen in so grausamer Weise hätte verfahren können, wie es dem Angeklagten angelastet wird, darf nicht übersehen werden, daß bei den Juden das Rachebedürfnis so stark in Erscheinung tritt, daß es selbst die natürlichsten Gefühle der Solidarität überwiegt. Wie Vertreter des amerikanisch-jüdischen KZ Verbandes sich geäußert haben, ist bei den Juden vielfach noch immer das alttestamentarische Gesetz des "Aug um Aug, Zahn um Zahn, Blut um Blut" in Geltung.
Der Wiederaufnahmeantrag wurde am 13. Dezember 1949 abgelehnt, da die Belastungszeugen schon nach Amerika ausgewandert waren und die von der Verteidigung angeführten Zeugen keine neuen Erkenntnisse gebracht hätten.
Als er am 22. September 1951 seinen zweiten Wiederaufnahmeantrag stellte, hatte G. endlich jene Person ausfindig machen können, die ihn angeblich als Blockältester abgelöst hatte, weshalb die Aussagen der "4" unglaubwürdig wurden, daß G. über Wochen in Ebensee gewütet hätte. Nach dieser Zeugenaussage aber war er aber nur wenige Tage Blockältester gewesen. Das Volksgericht lehnte am 26. Februar 1952 den Antrag ab, die vernommenen Zeugen würden angeblich nichts Neues aussagen. Auf die sehr umfangreiche Aussage des von G. namhaft gemachten Entlastungszeugen wurde in der Ablehnung gar nicht eingegangen.
Im dritten Wiederaufnahmeantrag vom 30. September 1952 wies G. das Gericht darauf hin, daß der ihn entlastende Blockälteste in der Begründung der Ablehnung vergessen wurde. Dennoch lehnte das Gericht am 12. Jänner 1953 den Antrag neuerlich ab.
Nach einem Gnadengesuch an den Bundespräsidenten vom 16. Dezember 1952 beschloß das Volksgericht am 30. März 1953, dem Antrag G. auf gnadenweise Nachsicht des Vollzuges der Reststrafe nicht stattzugegeben.
Doch plötzlich wendete sich aus Gründen, die aus dem Akt nicht hervorgehen, das Blatt (entweder setzte sich die Meinung bei Gericht durch, daß die hohe Strafe für G. möglicherweise ein Fehlurteil war oder es hing mit der Einschaltung des American Joint Committees zusammen): Der Präsident des Linzer Landesgericht setzte sich persönlich beim Bundespräsidenten für eine Begnadigung G.s ein. Am 17. Februar 1954 beschloß das LG Linz als Volksgericht die Milderung der mit Urteil des Vg Linz vom 16. Jänner 1948 verhängten Kerkerstrafe in der Dauer von 20 Jahren dahingehend, daß gem. § 3/2 KVG unter Bedachtnahme auf § 13 KVG eine schwere Kerkerstrafe in der Dauer von 10 Jahren verhängt wurde. Außerdem wurde am 24. Februar 1954 die bedingte Entlassung von Hermann G. angeordnet. Die Freiheitsstrafe galt am 24. Februar 1954 als verbüßt.
G. suchte im Mai 1967 um die österreichische Staatsbürgerschaft an.


<Anm. 131>
LG Linz Vg 8 Vr 3310/47. Der Akt befindet sich im OÖLA.



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