"Im Namen der Republik Österreich!"
Die Volksgerichte in der Steiermark 1945 bis 1955.
Obwohl viele Menschen unter der NS-Diktatur gelitten hatten,
kam es nach dem Untergang des Dritten Reiches in Österreich zu keiner
"Revolution", zu keiner "großen Abrechnung". Die
alliierten Truppen, die im Frühjahr 1945 das Land besetzten, waren bemüht,
rasch Ruhe und Ordnung herzustellen, Racheaktionen gegen Nationalsozialisten
blieben in der Minderzahl. Nachdem etwa ab Juni 1945 die erste Phase des Umbruches
überstanden und einigermaßen geordnete Verhätnisse wiederhergestellt
worden waren, kam es zu einem vielschichtigen Prozeß der "Entnazifizierung",
in dem sowohl die Besatzungsbehörden als auch österreichische Stellen
tätig waren. Zu dieser gehörte auch die strafrechtliche Verfolgung
jener, die sich aktiv an der NS-Herrschaft beteiligt beziehungsweise in Ausnützung
dieses Systems anderen Menschen Unrecht zugefügt hatten, im Rahmen der
zu diesem Zwecke geschaffenen Volksgerichtsbarkeit. Wenn auch mit dem Verbotsgesetz
und dem Kriegsverbrechergesetz verhältnismäßig rasch die strafrechtlichen
Voraussetzungen für eine "Abrechnung" mit der NS- Herrschaft
geschaffen worden waren, gab es doch große Schwierigkeiten bei der Umsetzung.
Das Volksgericht Wien, das sich in der sowjetischen Besatzungszone befand,
konnte seine Tätigkeit bereits im August 1945 aufnehmen, während
die für die Steiermark und Kärnten zuständige britische Besatzungsmacht
die beiden Gesetze erst mit 30. Jänner 1946 in Kraft treten ließ.
So fand die erste Volksgerichtsverhandlung in Graz erst am 20. März 1946
statt, in Leoben am 17. April.
Der erste Strafakt, der sich im Grazer Landesgericht für Strafsachen
auf einen Volksgerichtsfall bezieht, wurde - nachdem die Gerichte nach dem
russischen Einmarsch vorerst geschlossen worden waren - am 27. Juni 1945 angelegt.
Einen Eindruck von den damaligen Schwierigkeiten vermittelt der Bericht des
provisorischen Leiters des Landesgerichtes für Strafsachen, Dr. Arthur
Wolff, an das Oberlandesgerichtspräsidium vom 31. Juli 1945. Daraus ist
zu entnehmen, daß das Amtsgebäude in der Conrad-von-Hötzendorfstraße
nach der Räumung durch die Russen am 16. Juli 1945 erst einer gründlichen
Reinigung unterzogen werden mußte, die eine Woche dauerte. Der Personalstand
umfaßte fünfzehn Richter und 29 Beamte und Angestellte der Geschäftsstelle,
von den Verhandlungssälen waren nur zwei benützbar, zwei weitere
wurden zu diesem Zeitpunkt gerade wiederhergestellt.
Nach der Übernahme der Besatzungszone durch die Briten wurden die Gerichte
wiederum geschlossen, sie nahmen erst im Oktober 1945 ihre Tätigkeit
offiziell wieder auf. Da das Kriegsverbrecher- und Verbotsgesetz nach der
Übernahme der Zone durch die Briten in der Steiermark nicht mehr Rechtskraft
hatten, behalf man sich, indem die Voruntersuchungen auf entsprechende Bestimmungen
des allgemeinen Strafgesetzes "umgeleitet" wurden. Ein weitaus größeres
Hemmnis bedeutete aber der Personalmangel aufgrund der Entlassung zahlreicher
nationalsozialistisch belasteter Richter, was insbesondere die Strafgerichte
traf, da man für diesen sensiblen Bereich Richter mit möglichst
wenig Bezug zum NS-System einsetzen wollte. So mußten bereits Ende November
vier Richter des Landes- sowie des Bezirksgerichtes für Zivilrechtssachen
dem Straflandesgericht zur zeitweiligen Unterstützung zugeteilt werden.
Der große Arbeitsaufwand, den die Volksgerichtsbarkeit für die
ohnehin schlecht ausgestatten Gerichte bedeuteten, wird deutlich, wenn man
die Anzahl der anhängigen Strafsachen, den Neuanfall und die Erledigungen
miteinander vergleicht. So waren im ersten Halbjahr 1946 am Grazer Landesgericht
für Strafsachen von 24 Richtern über 6.700 Geschäftsstücke
erledigt worden! Da der Neuanfall die Anzahl der Erledigungen jedoch weit
überstieg, waren im Dezember 1946 bereits rund 2.000 "politische"
Strafsachen anhängig, was sich bis zum Juli 1947 auf 3.000 steigerte!
Erst ab diesem Zeitpunkt kam es zu einem leichten Absinken des Rückstandes,
der im Dezember 1947 immerhin noch rund 2.200 anhängige Strafsachen betrug.
Zum selben Zeitpunkt waren in Leoben noch weitere 1.100 "politische"
Strafsachen anhängig. Die genannten Zahlen dürfen jedoch nur vorsichtig
bewertet werden. Sie können uns keinen Aufschluß über die
tatsächliche Effizienz der Volksgerichte und deren Akzeptanz in der Bevölkerung
geben. Sehr wohl zeigen sie uns, daß die Justiz zumindest in den ersten
Jahren sehr viele Volksgerichtsfälle zu behandeln hatte, die neben der
ohnehin großen Zahl zu erledigender Strafsachen einen unverhältnismäßig
hohen Anteil am Aufgabenbereich der Gerichte einnahmen. In Anbetracht der
schlechten Rahmenbedingungen stellt sich die Frage, wie weit Einstellungen
oder Verzögerungen von Verfahren wie auch (allfällige) "Fehlurteile"
der Volksgerichtsbarkeit an sich beziehungsweise den beteiligten ermittelnden
Behörden, Staatsanwälten, Berufs und Laienrichtern zur Last gelegt
werden können. Zu relativieren ist auch die Höhe der verhängten
Strafen beziehungsweise die tatsächlich verbrachte Zeit im Gefängnis.
In die Strafe wurde die Zeit der Untersuchungshaft eingerechnet, die in Internierungslagern
verbrachte Zeit dann, wenn dieser eine Verfolgungshandlung durch österreichische
Behörden vorangegangen war. Nachdem diese Internierungszeiten zum Teil
relativ lang waren, kamen viele Verurteilte schon am Tag der Verkündung
des Urteiles frei. Längere Freiheitstrafen wurden zumeist nach zwei Dritteln
der verbüßten Strafe (auch hier wieder unter Einrechnung der Untersuchungshaft
und Internierungszeit) aufgrund einer Begnadigung durch den Bundespräsidenten
bedingt nachgelassen. Bedingte Entlassungen waren jedoch bei "normalen"
Verurteilungen ebenso der Fall wie etwa bei jenen durch britische Militärgerichte.
Eine Bewertung der Volksgerichtsbarkeit in der Steiermark, geschweige denn
der in Österreich, ist beim derzeitigen Stand der Forschung nur in Ansätzen
möglich. Studien über das Volksgericht Graz sind bislang nur vereinzelt
erfolgt, die Verfahren vor den Leobener Senaten blieben von der Wissenschaft
völlig unbeachtet. Eine eingehende Aufarbeitung des Materials konnte
und sollte auch im Rahmen meiner Arbeit nicht erfolgen. Vielmehr war es meine
Intention, anhand ausgewählter Verfahren die Tätigkeit der Volksgerichte
in der Steiermark zu veranschaulichen, ohne jedoch daraus Schlüsse auf
deren Tätigkeit im Gesamten ziehen zu wollen. Mir lag daran, den Ablauf
der Verfahren, aber auch die Rahmenbedingungen darzustellen, unter denen sie
stattfanden.
Die von mir gewählte Einteilung der Beispiele richtet sich grob nach
den Deliktsgruppen des Verbots- und Kriegsverbrecher-gesetzes, nimmt aber
zum Teil auf "Tätergruppen" Bezug. So setzt sich ein eigener
Abschnitt mit der Frage der "Abrechnung" mit der NS-Justiz, insbesondere
dem Verfahren gegen den ehemaligen OLG-Präsidenten Friedrich Meldt auseinander.
Bei den Verfahren nach § 11 VG beschreibe ich die "Mitläufer"
sowie Angehörigen der österreichischen Legion in eigenen Teilkapiteln.
Einen eigenen Komplex bilden die Prozesse wegen nationalsozialistischer Wiederbetätigung,
an deren eingehenderer Erforschung ich derzeit arbeite.
Neben der Beschreibung einzelner Fälle - die Bandbreite reicht von hochrangigen
NS-Funktionären und Gewaltverbrechern über geringe Strafen beispielsweise
wegen Denunziation hin zu Freisprüchen und eingestellten Verfahren -
habe ich mich auch mit methodischen Fragen beschäftigt. Die große
Zahl des vorhandenen Materials bietet immerhin die Möglichkeit, verschiedensten
Fragen im Zusammenhang mit dem Ablauf, dem Inhalt und den Konsequenzen von
Strafverfahren nachzugehen. Die Volksgerichtsakten sind aber nicht nur als
justizgeschichtliche Quelle von Bedeutung. So fanden sich in den Akten beispielsweise
Abschriften von Sondergerichtsurteilen, Augenzeugenberichte zum "Anschluß"
oder bisher unbekannte Photos vom Brand der Grazer Synagoge im November 1938!
Ich denke, daß gerade die Vielzahl und Anschaulichkeit der angesprochenen
Themen eine der Stärken dieser Arbeit ist, zusammen mit den zahlreichen
Faksimiles, die durch das Einscannen eine hohe Bildqualität aufweisen.
Ich möchte aber nicht verhehlen, daß ich anfänglich Bedenken
hatte, die Arbeit in dieser Form vorzulegen. Die kursorische Beschreibung
einzelner Verfahren zwang zu zahlreichen Kürzungen und Auslassungen,
sodaß der Eindruck, den die Leserin / der Leser von einem Fall gewinnt,
verfälscht sein kann. Es war außerdem nicht meine Absicht, Menschen
(nochmals) vor Gericht zu stellen. Eine Beschreibung der Volksgerichtsbarkeit
erschien mir aber nur dann sinnvoll und für einen weiteren Kreis von
Interessierten zugänglich, indem einzelne Fälle als Beispiel herausgegriffen
wurden. So läßt sich ein plastisches und nachvollziehbares Bild
gewinnen; erst die Auseinandersetzung mit den Betroffenen macht das angewendete
Recht verständlich.