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  Anmerkungen zur Arbeit mit gerichtlichen Strafakten
in der zeitgeschichtlichen Forschung (Teil 1)

Einleitung
Mit den folgenden Ausführungen soll versucht werden, den HistorikerInnen für ihre Forschungstätigkeit in bezug auf gerichtliche Strafverfahren zunächst
- die
fundamentalen Kenntnisse über diese Verfahrensart und sodann
-
Detailwissen über den Verfahrensgang und die Aktengestaltung
zu vermitteln. Nach Möglichkeit soll dabei auch der jeweils hinter den formalen Gepflogenheiten stehende prozessuale Zweck erhellt werden.
Dem zweiten (für die Forschungspraxis natürlich besonders wichtigen) Teil der Aufgabe kann man am ehesten durch eine
systematische Darstellung des gesetzlich vorgesehenen Verfahrensganges, verbunden mit den jeweils angebrachten Hinweisen zur Aktengestaltung gerecht werden. Der erste Teil erfordert eine Beschäftigung mit dem Verfahrenszweck und den Verfahrensgrundsätzen. Gelegentlich sollen auch Überlegungen zur Eignung von Gerichtsakten als Quelle der historischen Forschung angeboten werden.

Eingrenzung des Themas
Natürlich ist eine
Eingrenzung des Themas in zeitlicher und sachlicher Hinsicht notwendig, um diese Ausführungen nicht auf den Umfang eines Lehrbuches anwachsen zu lassen. Es liegt auf der Hand, diese Eingrenzung in Entsprechung der dzt. in den beiden Trägervereinen dieses Mitteilungsblattes betriebenen Forschungstätigkeit vorzunehmen: Dargestellt wird daher die Prozeßrechtslage 1945–1970[1] und zwar primär hinsichtlich der Verfahren vor den Volksgerichten [2] und vor den Geschwornengerichten [3] .

Der Verfahrenszweck gerichtlicher Strafprozesse
Das gerichtliche Strafverfahren (der Strafprozeß) dient der Feststellung, ob und gegen welche Person im Einzelfall ein staatlicher Strafanspruch besteht oder nicht besteht und bejahendenfalls der Durchsetzung dieses Strafanspruches. Der Strafanspruch muß aus der Begehung eines den Gerichten zur Aburteilung zugewiesenen Deliktes resultieren. Wegen des schon im Art. IV. des Kundmachungspatentes vom 27. Mai 1852 (RGBl. Nr. 117) festgelegten, bis heute für das materielle Strafrecht fortgeltenden Grundsatzes "nulla poena (nullum crimen), sine lege"[4] muß ein Verhalten, um strafgerichtliche Ahndung nach sich zu ziehen, einen im Gesetz als gerichtlich strafbar normierten Tatbestand verwirklichen. Die Klärung der Frage, inwieweit nun ein bestimmtes menschliches Verhalten einen solchen strafgesetzlichen Tatbestand verwirklicht sowie die allenfalls vorzunehmende Strafzumessung ist Gegenstand des "Erkenntnisverfahrens". Die Verwirklichung des dabei als gegeben erkannten Strafanspruches erfolgt im "Vollstreckungsverfahren".

Im
Erkenntnisverfahren [5] wird der für die Rechtsanwendung im Einzelfall komplexeste und schwierigste Teil der Arbeit geleistet. Die Entscheidung, ob eine bestimmte Person sich einer Straftat schuldig gemacht hat oder nicht, wird wegen der aus der Entscheidung abgeleiteten Folgen wohl allgemein als inhaltlich besonders schwierig und verantwortungsvoll angesehen. Sie stellt die Entscheidenden tatsächlich vor Probleme[6], deren Vielschichtigkeit und Verwobenheit nicht ohne weiteres durchschaubar ist, zumal die dazu im Laufe des Verfahrens angestellten Überlegungen regelmäßig erst bei Urteilsfällung öffentlich dargelegt und ausführlich begründet werden müssen[7].

Wenn man gerichtliche Strafakten als (Sammlung[8] von) Quellen der historischer Forschung verwenden will, sollte man sich von vorneherein der besonderen Bedingungen dieses Verfahrensabschnittes und der im Erkenntnisverfahren zu lösenden rechtlichen und tatsachenbezogenen Probleme bewußt sein. Man muß sich auch immer vor Augen halten, daß Verfahrensgang und Aktengestaltung vom Zwang zur Problemlösung ganz wesentlich bestimmt werden und jeweils einem bestimmten (sich im Zuge des fortschreitenden Verfahrens häufig immer mehr einengenden) Erkenntnisinteresse untergeordnet sind. Sachverhalte, die durchaus das Interesse der Historikerin / des Historikers finden, werden im gerichtlichen Strafverfahren unter Umständen zwar erwähnt, aber nicht weiter untersucht, weil sie weder für die Lösung der Tatfrage noch für die Beurteilung der Rechtsfrage relevant waren oder jedenfalls nicht für relevant gehalten wurden.

Die Verfahrensgrundsätze im Strafprozeß
Angesichts der Tragweite der im strafgerichtlichen Verfahren zu fällenden Entscheidungen haben sich Verfahrensgrundsätze entwickelt, welche sicherstellen sollen, daß der Ausgleich zwischen dem Interesse an wirksamer Verfolgung und Bestrafung der Übeltäter und der Notwendigkeit, Unschuldige vor strafgerichtlicher Verfolgung zu bewahren, im Einzelfall aber auch generell möglichst gut und unter Wahrung der Menschenrechte gelingt:

1. Das
Offizialprinzip bedeutet, daß der Täter grundsätzlich von Amts wegen zu verfolgen ist, sobald die dazu berufene Behörde des Staates (Staatsanwaltschaft) von der Straftat Kenntnis erlangt hat. In der Regel wird diese Kenntnis durch eine Anzeige, d.h. durch die gezielt zur Auslösung der Strafverfolgung vorgenommene Meldung eines deliktischen Verhaltens, vermittelt. Aber auch jede andere Art der Kenntniserlangung führt zur Aufnahme der Strafverfolgung. [9] Die Anzeige kann nach Erstattung von der anzeigenden Person nicht mehr wirksam zurückgezogen werden.
Das Offizialprinzip gilt für den hier darzustellenden Teil des Strafprozeßrechtes uneingeschränkt, wird aber in Fällen geringeren staatlichen Verfolgungsinteresses durchbrochen.

2. Das
Anklageprinzip bedeutet, daß jedes Strafverfahren nur über Antrag eines zur Anklage Berechtigten eingeleitet und nicht gegen dessen Willen fortgesetzt werden kann. [10] Tritt der Ankläger von der Verfolgung zurück, so ist das Verfahren einzustellen (dies gilt für das Verfahren bis zur Hauptverhandlung) oder (bei Rücktritt in der Hauptverhandlung) durch Formalfreispruch zu beenden.
Für die Praxis bedeutsam ist eine weitere Folge des Anklagegrundsatzes: Das Gericht darf nur jene Tat rechtlich beurteilen, die Gegenstand der Anklage ist. Es kommt dabei allerdings nicht auf die vom Ankläger vorgenommene rechtliche Beurteilung an, sondern darauf, daß die Identität des unter Anklage gestellten und des urteilsmäßig erledigten Sachverhaltes gewahrt bleibt.
Der Anklagegrundsatz erfährt im Vorverfahren insoferne eine Durchbrechung, als bestimmte unaufschiebbare Untersuchungshandlungen vom Gericht ohne Antrag des Anklägers vorgenommen werden können (§ 89 StPO). Die in der Praxis am weitesten verbreitete, durch die StPO nicht ausdrücklich geregelte Abweichung vom Anklageprinzip betrifft die Ermittlungstätigkeit der Sicherheitsbehörden vor Anzeigeerstattung: Die zur Anzeigeerstattung an die StA verpflichteten Sicherheitsbehörden legen die bei ihnen eingehenden Meldungen über Straftaten in der Regel nicht gleich der StA vor. Sie führen über die Anzeige "interne Erhebungen" durch, welche durchaus auch die niederschriftliche Vernehmung der vom Anzeiger benannten Zeugen beinhalten. Diese Praxis der sehr weiten Auslegung dessen, was zu internen Erhebungen der Sicherheitsbehörden gehört, wird von der Rechtsprechung für zulässig gehalten.

3. Das
Legalitätsprinzip stellt eine notwendige Ergänzung der bisher dargelegten Grundsätze dar: Es verpflichtet den Staatsanwalt, a l l e amtlich zu seiner Kenntnis gelangenden Offizialdelikte auch tatsächlich zu verfolgen. Sinn dieses grundsätzlichen, im § 34 (1) StPO ausgesprochenen Gesetzesauftrages[11] ist es, sicherzustellen, daß nicht aus außerrechtlichen Überlegungen (z.B. aus politischen Rücksichten etc.) die Strafverfolgung einzelner Personen oder Personengruppen unterlassen wird. Eine gewisse Einengung dieses Prinzips stellen lediglich die Bestimmungen des § 34 (2) StPO [12] dar. Wie in der Praxis mit dieser Verpflichtung umgegangen wird, ist von großer Aussagekraft für den jeweiligen Stand der Rechtspflege.
In Lehre und Anwendungspraxis haben sich Grundsätze für die Grenzen dieser Verfolgungspflicht herausgebildet: Voraussetzung für die Beantragung der Einleitung gerichtlicher Voruntersuchungen ist demnach das Vorliegen eines dringenden Tatverdachtes. Voraussetzung für eine Anklageerhebung ist die gegebene Wahrscheinlichkeit einer aufrechten Erledigung, d.h. daß unter Berücksichtigung der gegebenen Beweis und Rechtslage mit einem Schuldspruch eher zu rechnen sein muß als mit einem Freispruch. Soweit es dabei um die Beurteilung von Rechtsfragen geht oder um objektiv nachvollziehbare Überlegungen zur Beweislage, ist diese Praxis unbedenklich und hilft das Vorgehen der StA, überflüssigen bis unsinnigen Verfahrensaufwand zu vermeiden. Dort, wo jedoch eine Würdigung einander gleichwertig gegenüberstehender Beweismittel vom Ankläger vorgenommen wird, sind Bedenken am Platz: Hier vor allem eröffnet sich de facto eine Hintertür zur Umgehung des Legalitätsgrundsatzes, zumal die Einschätzung einer von einer Personenmehrheit vorzunehmenden Würdigung der Beweise etwas objektiv nur schwer Überprüfbares darstellt. Bedenklich wird eine Verfahrenseinstellung vom Standpunkt der Rechtsstaatlichkeit jedenfalls immer dann, wenn die Staatsanwaltschaft diese Einstellungserklärung deshalb abgibt, weil sie (oder ihre vorgesetzte Behörde) annimmt, die entscheidenden Geschwornen würden aus unsachlichen Erwägungen heraus zu einem Wahrspruch kommen, der zum Freispruch des Angeklagten führen müßte.[13]

4. Das
Prinzip der materiellen Wahrheit verpflichtet alle mit der Strafverfolgung Befaßten, von sich aus [14] und unter Einsatz aller rechtlich erlaubten Mittel die Wahrheit zu erforschen. Es wird allerdings gefordert, daß zu der Erforschung ein entsprechender Anlaß besteht, d.h. daß nur solche Umstände zu erforschen sind, die rechtlich relevant sein können und auf deren Vorliegen Hinweise (zumindest in der Form von Parteienvorbringen) vorliegen, oder für deren Vorhandensein die Erfahrung des täglichen Lebens oder die spezielle forensische Erfahrung ein Indiz liefern.[15]

Die vier bisher dargestellten Prinzipien gelten für das gesamte Erkenntnisverfahren, also für Vorverfahren, Zwischenverfahren, Hauptverhandlung und Rechtsmittelverfahren. Die darauf folgenden vier weiteren Verfahrensgrundsätze beziehen sich (jedenfalls für den hier zu behandelnden Zeitraum und die zu dieser Zeit gegebene Rechtslage) hingegen nur auf die Hauptverhandlung und (allerdings nur zum Teil) auch auf das Rechtsmittelverfahren.

Anmerkungen

[Anm. 1]
Der Grund für diese zeitliche Beschränkung ist die Berücksichtigung der "Sperrfrist" für Akten und der Umstand, daß sich 1971 eine doch recht gravierende Änderung des Prozeßrechts ergab.
Die "Eckpfeiler" der Entwicklung des Strafprozeßrechts in dieser Zeit sind:
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Vom 27. 4. bis 12. 6. 1945 galt die Österreichische Strafprozeßordnung (StPO) in der durch zahlreiche Verordnungen der NS-Machthaber veränderten Form weiter.
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Ab 13. 6. 1945 galt die von den vorerwähnten Veränderungen gereinigte StPO, nach dem Stand der Gesetzgebung vom 13. 3. 1938. Mit diesem Stand wurde der Gesetzestext mit Kundmachung des Staatsamtes für Justiz vom 24. 7. 1945 mit Wirksamkeit vom
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15. 8. 1945 als Österreichische Strafprozeßordnung 1945 wiederverlautbart.
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Ab 1947 erfolgten eine Reihe von Veränderungen der StPO 1945 und zwar durch die Strafprozeßnovelle 1947 (BGBl. 192/47), die Strafprozeßnovelle 1949 (BGBl. 100/49), das Geschwornengerichtsgesetz (BGBl. 240/50) und die Strafprozeßnovelle 1952 (BGBl. 161/52). Ausgelöst wurden solche Veränderungen des Prozeßrechts in der Regel durch Änderungen der materiellen Rechtslage.
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Am 12. 5. 1960 wurden mit Kundmachung der Bundesregierung vom 20. 4. 1960 die veränderten Bestimmungen der StPO als "Strafprozeßordnung 1960" wiederverlautbart (BGBl. 98/1960).
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Ab 1962 kam es bis 1970 wieder zu einer Reihe von Veränderungen der Prozeßrechtslage und zwar durch die Strafprozeßnovelle 1962 (BGBl. 229/62), die Strafgesetznovelle 1963 (BGBl. 175/63), das Strafrechtsänderungsgesetz 1968 (BGBl. 74/1968), die Strafprozeßnovelle 1968 (BGBl. 267/68) sowie das Einführungsgesetz zum Strafvollzugsgesetz (BGBl. 145/69).

[Anm. 2]
Volksgerichte wurden durch Art. V. (§§ 24 - 26) des "Verfassungsgesetzes vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz) – StGBl. Nr. 13/1945 eingerichtet. Sie übten ihre Tätigkeit in Versammlungen von zwei Berufsrichtern (von denen einer den Vorsitz führte) und drei Schöffen aus. Den Volksgerichten war die Verhandlung und Entscheidung in Fällen nach dem Verbotsgesetz und dem Kriegsverbrechergesetz (siehe hiezu den Beitrag über das KVG!) übertragen.
Das Verfahren wurde – über die Vorschriften der §§ 24 - 26 VG hinaus – durch das "Verfassungsgesetz vom 19. September 1945 über das Verfahren vor dem Volksgericht und den Verfall des Vermögens (Volksgerichtsverfahrens- und Vermögensverfallsgesetz)" – StGBl. Nr.177/1945 geregelt. Nach Änderungen und Ergänzungen, welche das Gesetz im VI. Hauptstück des Nationalsozialistengesetzes vom 6. Februar 1947 – BGBl. 25/1947 ("Volksgerichts- und Vermögensverfallsgesetznovelle") und durch das "Bundesverfassungsgesetz vom 26. Februar 1947, womit das Volksgerichtsverfahrens- und Vermögensverfallsgesetz abgeändert wird" – BGBl. 67/1947 – erfuhr, wurde es über VO der Bundesregierung vom 23. Juli 1947 – BGBl. 213/1947 – als "Volksgerichts- und Vermögensverfallsgesetz 1947" am 25. September 1947 wiederverlautbart.
Nachdem Österreich seine Selbständigkeit im Staatsvertrag von Wien wiedererlangt hatte, beeilte es sich, neben anderen Maßnahmen der Verfolgung ehemaliger Nationalsozialisten (und Kriegsverbrecher), auch die Volksgerichtsbarkeit abzuschaffen, welche sich bis dahin (wenn auch mit gewissen Einschränkungen für die letzten Jahre) als recht wirksames Instrument gegen alte und neue NS-Umtriebe erwiesen hatte. Mit dem "Bundesgesetz vom 20. Dezember 1955 über die Aufhebung der Volksgerichte und die Ahndung der bisher diesen Gerichten zur Aburteilung zugewiesenen Verbrechen" – BGBl. 285/1955 – wurden die bisher in die volksgerichtliche Zuständigkeit fallenden Verfahren den Geschwornengerichten übertragen.

[Anm. 3]
Geschwornengerichte, die sich aus dem Schwurgerichtshof, bestehend aus drei Berufsrichtern (von denen einer den Vorsitz führt) und der Geschworenenbank mit acht Laienrichtern zusammensetzten, gab es nach 1945 erst wieder mit dem Inkrafttreten des Geschwornengerichtsgesetzes (BGBl. 240/1950) am 1. Jänner 1951.
Mit dem "Bundesgesetz vom 19. Juni 1934 über die Wiedereinführung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren und die Umgestaltung der Geschwornengerichte (Strafrechtsänderungsgesetz 1934)" – BGBl. II Nr.77/1934 i.d.F. des Bundesgesetzes Nr. 428/1935 wurden an Stelle der bis dahin bestehenden Geschwornengerichte sogenannte "Schwurgerichte" eingeführt, welche ihre Tätigkeit in Versammlungen von drei (Berufs-)Richtern und drei Schöffen ausübten. Da 1945 die StPO nach dem Stand der Gesetzgebung vom 13. 3. 1938 wiederverlautbart wurde, blieben die vom Austrofaschismus erfundenen Schwurgerichte zunächst bestehe.

[Anm. 4]
"Art. IV. Nach Maßgabe dieses Strafgesetzes kann vom Tag seiner Wirksamkeit angefangen nur dasjenige als Verbrechen ... behandelt und bestraft werden, was in demselben ausdrücklich als Verbrechen ... erklärt wird."
Seit Inkrafttreten des StGB im Jahre 1975 ist dieser Grundsatz im § 1 StGB verankert: "§1 (1) Eine Strafe ... darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die unter eine ausdrückliche gesetzliche Strafdrohung fällt und schon zur Zeit ihrer Begehung mit Strafe bedroht war."
Zu einer Abkehr von dieser für einen Rechtsstaat fundamentalen Regel kam es in Österreich lediglich unter der NS-Herrschaft, als durch § 1 der AnpassungsVO. vom 13.8.1940 (RGBl. I S. 1117) der § 2 des RStGB. eingeführt wurde:
"§ 2. Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient. ..."

[Anm. 5]
Das Erkenntnisverfahren gliedert sich wiederum in Vorverfahren, Hauptverhandlung (HV) und Rechtsmittelverfahren. Zwischen Vorverfahren und Hauptverhandlung wird gelegentlich ein Zwischenverfahren eingeschoben.

[Anm. 6]
Peter Koller, Theorie des Rechts: Eine Einführung, Wien, Köln, Weimar, 1992, Seiten 170 ff: Koller benennt die bei der Rechtsanwendung im Einzelfall primär auftretenden Probleme. Er unterscheidet dabei zwischen Problemen betreffend die Rechtsregeln, Problemen betreffend den Sachverhalt und Problemen betreffend die Rechtsfolgen.
Hauptprobleme der Rechtsanwendung sind das Aufsuchen der einschlägig anwendbaren Rechtsvorschriften, die Beurteilung des Zusammenhanges der insgesamt möglicherweise anwendbaren Vorschriften und die Auslegung der in Betracht kommenden Normen. Erschwerend, so Koller, kommt hinzu, daß diese Probleme sich nicht einfach eines nach dem anderen lösen lassen, sondern daß sie miteinander verquickt sind. Hauptprobleme betreffend den Sachverhalt sind die rechtliche Deutung und Qualifikation von Tatsachen des Lebens und [in der gerichtlichen Praxis weit im Vordergrund stehend – H.G.] das Feststellen und Beweisen solcher Tatsachen. Man sollte ergänzend wohl darauf hinweisen, daß in der Praxis auch die Lösung der Hauptprobleme nur in Beachtung ihres wechselseitig vorhandenen Beziehungsgefüges erfolgen kann.

[Anm. 7]
Art und Ausführlichkeit dieser Darlegungen ist von Verfahrensart zu Verfahrensart höchst unterschiedlich und darüber hinaus wohl auch von der Tatsache abhängig, ob und inwieweit die Entscheidung noch einem weiteren Rechtszug unterliegt. Schließlich spielt auch die fachliche Kompetenz der befaßten Gerichtspersonen eine bedeutende Rolle. Im Geschwornengerichtsverfahren müssen die Geschwornen, die ja alleine über die Schuldfrage entscheiden, ihren Wahrspruch überhaupt nicht begründen.

[Anm. 8]
Für die Historikerin / den Historiker, die / der über die Vorkommnisse, welche Gegenstand des Strafverfahrens waren, Nachforschungen anstellt, ist der Gerichtsakt immer eine S a m m l u n g verschiedenster, mitunter widersprüchlicher Quellen und nicht eine einzige Quelle. Für justizgeschichtliche Forschungsarbeit wird sich der Gerichtsakt in der Regel als e i n e Quelle über den Umgang von Gerichten und Staatsanwaltschaft mit bestimmten Problemen darstellen.

[Anm. 9]
In der Praxis stößt man im Akt gelegentlich auf Erklärungen der Staatsanwaltschaft zu Delikten, hinsichtlich welcher keine Anzeige aufzufinden ist. Tatsächlich reagiert die StA mit solchen Erklärungen auf Hinweise, die sich aus einer zum Akt gelangten Aussage, die in der Hauptsache einem anderen Thema galt, ergeben. Es ist dann nicht immer leicht, diese Bezugsstelle im Akt aufzufinden.

[Anm. 10]
Dieser Grundsatz, der sich sowohl aus Art. 90 Abs.(2) B-VG. als auch aus § 2 Abs.(1) StPO ergibt, verhindert, daß das Gericht von sich aus die Strafverfolgung aufnehmen oder ausdehnen kann. Ein solches Verfahren ("Inquisitionsprozeß"), in welchem die Aufgaben des Anklägers und des Richters in einer Person vereint sind, würde die für eine gerechte Entscheidungsfindung notwendige Objektivität vermissen lassen.

[Anm. 11]
"§ 34 (1) Die Staatsanwälte haben alle strafbaren Handlungen, welche zu ihrer Kenntnis kommen ..., von Amts wegen zu verfolgen ..."

[Anm. 12]
Nach § 34 (2) StPO kann der StA, falls dem Beschuldigten mehrere Straftaten zur Last gelegt werden, von der Verfolgung einzelner Straftaten absehen oder unter Vorbehalt späterer Verfolgung zurücktreten, wenn "das voraussichtlich weder auf die Strafen oder sichernden Maßnahmen noch auf die mit der Verurteilung verbundenen Rechtsfolgen wesentlichen Einfluß hat"; weiters wenn "der Beschuldigte wegen der übrigen strafbaren Handlungen an eine ausländische Behörde ausgeliefert wird und die im Inland zu erwartenden Strafen ... gegenüber denen, auf die im Ausland erkannt werden wird, nicht ins Gewicht fallen". Schließlich kann der Staatsanwalt "von der Verfolgung eines im Auslande begangenen Verbrechens absehen oder zurücktreten, wenn der Täter schon im Ausland dafür gestraft worden und nicht anzunehmen ist, daß das inländische Gericht eine strengere Strafe verhängen werde".

[Anm. 13]
Es sollte daher für die wissenschaftliche Bearbeitung von Verfahren, die auf Grund von schwer nachvollziehbaren Einstellungserklärungen der Anklagebehörde beendet wurden, die Forschertätigkeit auch auf das "Tagebuch" der Staatsanwaltschaft ausgedehnt werden.

[Anm. 14]
Aus der Bindung von Gerichten und Sicherheitsbehörden an Anträge der StA ergibt sich jedoch im Falle von Vorerhebungen eine Einschränkung dieses Grundsatzes. Da die StA ebenfalls der Erforschung der materiellen Wahrheit verbunden ist, ist aus der Antragsbindung in der Regel kein Nachteil für die Wahrheitsfindung zu erwarten.

[Anm. 15]
Mit dem Grundsatz der materiellen Wahrheit eng zusammen hängen Fragen der freien Beweiswürdigung sowie der Begründungspflicht von Entscheidungen, ebenso Fragen der Sicherstellung der Überprüfungsmöglichkeit von Entscheidungen.

Dr. Heinrich Gallhuber ist Richter im Ruhestand in Wien. Er war 1983/84 Vorsitzender des ANR-Prozesses.


Teil 2
Teil 3
Teil 4



Heinrich Gallhuber
erschienen in "Justiz und Erinnerung"
Nr. 1