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Anmerkungen zur Arbeit mit gerichtlichen Strafakten in der zeitgeschichtlichen Forschung (Teil 1) Einleitung Mit den folgenden Ausführungen soll versucht werden, den HistorikerInnen für ihre Forschungstätigkeit in bezug auf gerichtliche Strafverfahren zunächst - die fundamentalen Kenntnisse über diese Verfahrensart und sodann - Detailwissen über den Verfahrensgang und die Aktengestaltung zu vermitteln. Nach Möglichkeit soll dabei auch der jeweils hinter den formalen Gepflogenheiten stehende prozessuale Zweck erhellt werden. Dem zweiten (für die Forschungspraxis natürlich besonders wichtigen) Teil der Aufgabe kann man am ehesten durch eine systematische Darstellung des gesetzlich vorgesehenen Verfahrensganges, verbunden mit den jeweils angebrachten Hinweisen zur Aktengestaltung gerecht werden. Der erste Teil erfordert eine Beschäftigung mit dem Verfahrenszweck und den Verfahrensgrundsätzen. Gelegentlich sollen auch Überlegungen zur Eignung von Gerichtsakten als Quelle der historischen Forschung angeboten werden. Eingrenzung des Themas Natürlich ist eine Eingrenzung des Themas in zeitlicher und sachlicher Hinsicht notwendig, um diese Ausführungen nicht auf den Umfang eines Lehrbuches anwachsen zu lassen. Es liegt auf der Hand, diese Eingrenzung in Entsprechung der dzt. in den beiden Trägervereinen dieses Mitteilungsblattes betriebenen Forschungstätigkeit vorzunehmen: Dargestellt wird daher die Prozeßrechtslage 1945–1970[1] und zwar primär hinsichtlich der Verfahren vor den Volksgerichten [2] und vor den Geschwornengerichten [3] . Der Verfahrenszweck gerichtlicher Strafprozesse Das gerichtliche Strafverfahren (der Strafprozeß) dient der Feststellung, ob und gegen welche Person im Einzelfall ein staatlicher Strafanspruch besteht oder nicht besteht und bejahendenfalls der Durchsetzung dieses Strafanspruches. Der Strafanspruch muß aus der Begehung eines den Gerichten zur Aburteilung zugewiesenen Deliktes resultieren. Wegen des schon im Art. IV. des Kundmachungspatentes vom 27. Mai 1852 (RGBl. Nr. 117) festgelegten, bis heute für das materielle Strafrecht fortgeltenden Grundsatzes "nulla poena (nullum crimen), sine lege"[4] muß ein Verhalten, um strafgerichtliche Ahndung nach sich zu ziehen, einen im Gesetz als gerichtlich strafbar normierten Tatbestand verwirklichen. Die Klärung der Frage, inwieweit nun ein bestimmtes menschliches Verhalten einen solchen strafgesetzlichen Tatbestand verwirklicht sowie die allenfalls vorzunehmende Strafzumessung ist Gegenstand des "Erkenntnisverfahrens". Die Verwirklichung des dabei als gegeben erkannten Strafanspruches erfolgt im "Vollstreckungsverfahren". Im Erkenntnisverfahren [5] wird der für die Rechtsanwendung im Einzelfall komplexeste und schwierigste Teil der Arbeit geleistet. Die Entscheidung, ob eine bestimmte Person sich einer Straftat schuldig gemacht hat oder nicht, wird wegen der aus der Entscheidung abgeleiteten Folgen wohl allgemein als inhaltlich besonders schwierig und verantwortungsvoll angesehen. Sie stellt die Entscheidenden tatsächlich vor Probleme[6], deren Vielschichtigkeit und Verwobenheit nicht ohne weiteres durchschaubar ist, zumal die dazu im Laufe des Verfahrens angestellten Überlegungen regelmäßig erst bei Urteilsfällung öffentlich dargelegt und ausführlich begründet werden müssen[7]. Wenn man gerichtliche Strafakten als (Sammlung[8] von) Quellen der historischer Forschung verwenden will, sollte man sich von vorneherein der besonderen Bedingungen dieses Verfahrensabschnittes und der im Erkenntnisverfahren zu lösenden rechtlichen und tatsachenbezogenen Probleme bewußt sein. Man muß sich auch immer vor Augen halten, daß Verfahrensgang und Aktengestaltung vom Zwang zur Problemlösung ganz wesentlich bestimmt werden und jeweils einem bestimmten (sich im Zuge des fortschreitenden Verfahrens häufig immer mehr einengenden) Erkenntnisinteresse untergeordnet sind. Sachverhalte, die durchaus das Interesse der Historikerin / des Historikers finden, werden im gerichtlichen Strafverfahren unter Umständen zwar erwähnt, aber nicht weiter untersucht, weil sie weder für die Lösung der Tatfrage noch für die Beurteilung der Rechtsfrage relevant waren oder jedenfalls nicht für relevant gehalten wurden. Die Verfahrensgrundsätze im Strafprozeß Angesichts der Tragweite der im strafgerichtlichen Verfahren zu fällenden Entscheidungen haben sich Verfahrensgrundsätze entwickelt, welche sicherstellen sollen, daß der Ausgleich zwischen dem Interesse an wirksamer Verfolgung und Bestrafung der Übeltäter und der Notwendigkeit, Unschuldige vor strafgerichtlicher Verfolgung zu bewahren, im Einzelfall aber auch generell möglichst gut und unter Wahrung der Menschenrechte gelingt: 1. Das Offizialprinzip bedeutet, daß der Täter grundsätzlich von Amts wegen zu verfolgen ist, sobald die dazu berufene Behörde des Staates (Staatsanwaltschaft) von der Straftat Kenntnis erlangt hat. In der Regel wird diese Kenntnis durch eine Anzeige, d.h. durch die gezielt zur Auslösung der Strafverfolgung vorgenommene Meldung eines deliktischen Verhaltens, vermittelt. Aber auch jede andere Art der Kenntniserlangung führt zur Aufnahme der Strafverfolgung. [9] Die Anzeige kann nach Erstattung von der anzeigenden Person nicht mehr wirksam zurückgezogen werden. Das Offizialprinzip gilt für den hier darzustellenden Teil des Strafprozeßrechtes uneingeschränkt, wird aber in Fällen geringeren staatlichen Verfolgungsinteresses durchbrochen. 2. Das Anklageprinzip bedeutet, daß jedes Strafverfahren nur über Antrag eines zur Anklage Berechtigten eingeleitet und nicht gegen dessen Willen fortgesetzt werden kann. [10] Tritt der Ankläger von der Verfolgung zurück, so ist das Verfahren einzustellen (dies gilt für das Verfahren bis zur Hauptverhandlung) oder (bei Rücktritt in der Hauptverhandlung) durch Formalfreispruch zu beenden. Für die Praxis bedeutsam ist eine weitere Folge des Anklagegrundsatzes: Das Gericht darf nur jene Tat rechtlich beurteilen, die Gegenstand der Anklage ist. Es kommt dabei allerdings nicht auf die vom Ankläger vorgenommene rechtliche Beurteilung an, sondern darauf, daß die Identität des unter Anklage gestellten und des urteilsmäßig erledigten Sachverhaltes gewahrt bleibt. Der Anklagegrundsatz erfährt im Vorverfahren insoferne eine Durchbrechung, als bestimmte unaufschiebbare Untersuchungshandlungen vom Gericht ohne Antrag des Anklägers vorgenommen werden können (§ 89 StPO). Die in der Praxis am weitesten verbreitete, durch die StPO nicht ausdrücklich geregelte Abweichung vom Anklageprinzip betrifft die Ermittlungstätigkeit der Sicherheitsbehörden vor Anzeigeerstattung: Die zur Anzeigeerstattung an die StA verpflichteten Sicherheitsbehörden legen die bei ihnen eingehenden Meldungen über Straftaten in der Regel nicht gleich der StA vor. Sie führen über die Anzeige "interne Erhebungen" durch, welche durchaus auch die niederschriftliche Vernehmung der vom Anzeiger benannten Zeugen beinhalten. Diese Praxis der sehr weiten Auslegung dessen, was zu internen Erhebungen der Sicherheitsbehörden gehört, wird von der Rechtsprechung für zulässig gehalten. 3. Das Legalitätsprinzip stellt eine notwendige Ergänzung der bisher dargelegten Grundsätze dar: Es verpflichtet den Staatsanwalt, a l l e amtlich zu seiner Kenntnis gelangenden Offizialdelikte auch tatsächlich zu verfolgen. Sinn dieses grundsätzlichen, im § 34 (1) StPO ausgesprochenen Gesetzesauftrages[11] ist es, sicherzustellen, daß nicht aus außerrechtlichen Überlegungen (z.B. aus politischen Rücksichten etc.) die Strafverfolgung einzelner Personen oder Personengruppen unterlassen wird. Eine gewisse Einengung dieses Prinzips stellen lediglich die Bestimmungen des § 34 (2) StPO [12] dar. Wie in der Praxis mit dieser Verpflichtung umgegangen wird, ist von großer Aussagekraft für den jeweiligen Stand der Rechtspflege. In Lehre und Anwendungspraxis haben sich Grundsätze für die Grenzen dieser Verfolgungspflicht herausgebildet: Voraussetzung für die Beantragung der Einleitung gerichtlicher Voruntersuchungen ist demnach das Vorliegen eines dringenden Tatverdachtes. Voraussetzung für eine Anklageerhebung ist die gegebene Wahrscheinlichkeit einer aufrechten Erledigung, d.h. daß unter Berücksichtigung der gegebenen Beweis und Rechtslage mit einem Schuldspruch eher zu rechnen sein muß als mit einem Freispruch. Soweit es dabei um die Beurteilung von Rechtsfragen geht oder um objektiv nachvollziehbare Überlegungen zur Beweislage, ist diese Praxis unbedenklich und hilft das Vorgehen der StA, überflüssigen bis unsinnigen Verfahrensaufwand zu vermeiden. Dort, wo jedoch eine Würdigung einander gleichwertig gegenüberstehender Beweismittel vom Ankläger vorgenommen wird, sind Bedenken am Platz: Hier vor allem eröffnet sich de facto eine Hintertür zur Umgehung des Legalitätsgrundsatzes, zumal die Einschätzung einer von einer Personenmehrheit vorzunehmenden Würdigung der Beweise etwas objektiv nur schwer Überprüfbares darstellt. Bedenklich wird eine Verfahrenseinstellung vom Standpunkt der Rechtsstaatlichkeit jedenfalls immer dann, wenn die Staatsanwaltschaft diese Einstellungserklärung deshalb abgibt, weil sie (oder ihre vorgesetzte Behörde) annimmt, die entscheidenden Geschwornen würden aus unsachlichen Erwägungen heraus zu einem Wahrspruch kommen, der zum Freispruch des Angeklagten führen müßte.[13] 4. Das Prinzip der materiellen Wahrheit verpflichtet alle mit der Strafverfolgung Befaßten, von sich aus [14] und unter Einsatz aller rechtlich erlaubten Mittel die Wahrheit zu erforschen. Es wird allerdings gefordert, daß zu der Erforschung ein entsprechender Anlaß besteht, d.h. daß nur solche Umstände zu erforschen sind, die rechtlich relevant sein können und auf deren Vorliegen Hinweise (zumindest in der Form von Parteienvorbringen) vorliegen, oder für deren Vorhandensein die Erfahrung des täglichen Lebens oder die spezielle forensische Erfahrung ein Indiz liefern.[15] Die vier bisher dargestellten Prinzipien gelten für das gesamte Erkenntnisverfahren, also für Vorverfahren, Zwischenverfahren, Hauptverhandlung und Rechtsmittelverfahren. Die darauf folgenden vier weiteren Verfahrensgrundsätze beziehen sich (jedenfalls für den hier zu behandelnden Zeitraum und die zu dieser Zeit gegebene Rechtslage) hingegen nur auf die Hauptverhandlung und (allerdings nur zum Teil) auch auf das Rechtsmittelverfahren. Anmerkungen [Anm.
1] [Anm.
2] [Anm.
3] [Anm.
4] [Anm.
5] [Anm.
6] [Anm.
7] [Anm.
8] [Anm.
9] [Anm.
10] [Anm.
11] [Anm.
12] [Anm.
13] [Anm.
14] [Anm.
15] Dr. Heinrich Gallhuber ist Richter im Ruhestand in Wien. Er war 1983/84 Vorsitzender des ANR-Prozesses. |
Heinrich Gallhuber erschienen in "Justiz und Erinnerung" Nr. 1 |
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