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Prof. Dr. C. F. Rüter (Amsterdam)

Ansprache bei der Präsentation der Studie
"Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht: der Fall Österreich"

Die Organisatoren dieser Konferenz gehen davon aus, dass ich jetzt zur Präsentation der Studie "Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht – der Fall Österreich" eine längere Ansprache halten werde. Das werde ich Ihnen aber nicht antun. Ich werde mich wesentlich kürzer fassen.
Nicht weil der Anlass nicht bedeutend wäre. Ganz im Gegenteil. Mit diesem Buch haben die Herausgeber und die Autoren, die das Thema in Einzel-und Fallstudien bearbeitet haben, einen Meilenstein in dem österreichischen Umgang mit der Ahndung dieser Kriminalität errichtet.
Ich werde mich aber trotzdem kurz fassen weil ich davon ausgehe, dass Sie, wie ich, uns hier eingefunden haben, um uns anzuhören, was in der langjähriger Forschungsarbeit zum Thema "Justiz und NS-Gewaltverbrechen in Österreich" ans Tageslicht gekommen ist. Es geht also um Österreich – und dazu kann ich wenig beisteuern. Ich bin mindestens so gespannt wie Sie auf das, was uns nachher geboten werden wird.

Typisch Österreichisches – nicht nur in Österreich...
Ich habe versucht, Ihnen bereits heute Nachmittag darzulegen, dass ein Ergebnis dieser Studie sein könnte, dass das, was man bislang für "typisch österreichisch" gehalten hat, bei näherer Betrachtung gar nicht so österreichisch ist und sich auch in anderen Staaten ereignet hat.
Das gilt auch für die Schwierigkeiten, auf die man bei diesem österreichischen Forschungsprojekt gestoßen ist. So waren die einschlägigen Verfahren ziemlich schlecht erschlossen. Meine österreichischen Freunden berichteten darüber manchmal in einem etwas vorwurfsvollen Ton. Offensichtlich realisierten sie sich nicht, dass dies fast überall in Europa der Normalfall ist.

Unvollständige Verfahrensübersichten
So ist eine einigermassen vollständige Übersicht der in den Niederlanden wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit abgeurteilten Deutschen und Österreicher erst in den sechziger Jahren erstellt worden. Und diese war zuerst auch noch recht mangelhaft: an die 30 Abgeurteilte sind erst später aufgefunden worden. Und als 1961 Westdeutschland sich aus Anlass des Eichmannprozesses mit internationalem Druck und mit der Frage konfrontiert sah, was bis dahin in Westdeutschland denn geahndet worden war, stand sie vor dem blanken Nichts. Eiligst mussten die Landesjustizministerien von Hand die NS-Prozesse aus der Gesamtheit aller nach 1945 verhandelten Kriminalfälle herausfischen. Und die daraufhin erstellte Übersicht enthielt noch keine 30% Prozent der seit 1945 durchgeführten NSG-Verfahren. Gleiches, wenn auch bedeutend gründlicher, tat um 1960 die DDR. Aber als wir uns im Rahmen unseres Projekts 'Justiz und NS-Verbrechen' Anfang der neunziger Jahre daran machten, die Gesamtheit der in Ostdeutschland geahndeten NS-Tötungsverbrechen auf den Tisch zu bekommen, entdeckten wir noch 47 NSG-Verfahren, die den DDR-Behörden bis zum Ende ihres Staates verborgen geblieben waren.

NS-Prozesse abseits der "normalen Rechtspolitik"
Die übliche unzureichende Erschliessung erklärt sich unschwer, wie vieles andere, aus den Eigensinnigkeiten der Strafrechtspflege. Natürlich werden im allgemeinen Strafverfahren zugänglich gemacht, die Rechtsprechung veröffentlicht und die Kriminalität und ihre Ahndung statistisch erfasst. Das braucht die Justiz für künftige Fälle und für ihre Rechtspolitik. Dazu muss sie wissen, wie die neueste Rechtsprechung zu den verschiedenen Straftatbeständen lautet, wie diese Kriminalität sich durch die Jahre hindurch entwickelt hat, ob die verhängten Freiheitsstrafen trendmässig hinauf- oder hinuntergehen – sie muss dann für mehr oder weniger Haftplätze sorgen –, etc.
Bei der uns hier interessierenden NS-Kriminalität arbeitet man aber Fälle ab, die für die normale Rechtspolitik nicht die gleiche Bedeutung haben. Das, was diese Kriminalität verursacht hat, ist vorbei: der Krieg ist aus, das NS-Regime verschwunden. Für die Gestaltung der Rechtspolitik sind die NS-Verfahren – so scheint es – ohne Bedeutung. Sie werden abgearbeitet und dann, erleichtert, ins Archiv gegeben. Dort verstauben sie, werden mancherorts sogar geräumt und sindöfters bereits nach kurzer Zeit unauffindbar. Wozu auch? Das Verfahren ist abgeschlossen, die Sache erledigt.
Juristen sind keine Archivare. Hervorragend zugänglich und exzellent gelagert waren die Akten nur in der DDR. Dort hatte das Ministerium für Staatssicherheit die Strafakten der meisten NS-Verfahren übernommen und zugänglich gemacht.

Historische Forschung als "Risikofaktor" für die Justiz...
Wenn nun aber die Historiker kommen und wissen möchten, was war, stossen sie bei der Justiz auf wenig Gegenliebe. Manchmal, weil die Justiz weiss, dass nicht alles so gelaufen ist, wie man es gerne hätte. Öfters aber, weil sie gar nicht mehr weiss, was sie im Hause hat. Offenlegung ist ein Risikofaktor, die Justiz könnte dabei schlecht weg kommen. So was lieben Staaten und Behörden nicht. Und die Justiz fürchtet die mit dem Auffinden und Erschliessen verbundene Arbeitsbelastung eines Vorhabens, dessen praktischen Nutzen sie kaum einsieht. Im Jahre 1961 schrieb mir ein mir wohl gesonnener westdeutscher Justizminister einen mehrseitigen Brief. Ich hatte ihm gesagt, ich möchte alle NSG-Urteile aus seinem Geschäftsbereich haben und dazu wissen, welche Verfahren gelaufen waren. "Das, lieber Freund, brauchen Sie gar nicht", schrieb er. "Die massgebliche Rechtsprechung steht in der amtlichen Sammlung des Bundesgerichtshofes und in der NJW. Ausserdem ist ein nachträgliches Heraussuchen, welche NS-Verfahren gelaufen sind und in wieweit diese sich mit NS-Tötungsverbrechen befassen, Handarbeit und arbeitsmässig nicht zu bewältigen."

...aber sie sollte sich von der Rechtswissenschaft beraten lassen
Sie sehen: Juristen sind nicht nur keine Archivare, sie sind auch keine Historiker. Und das ist gut so. Jeder tut das seine. Nur sollten die Juristen die Historiker dann gewähren lassen. Und die Historiker sollten sich bei ihrer Arbeit von Juristen zumindest ein wenig beraten lassen. Denn, wie jetzt und heute nachmittag bereits erörtert: die Juristerei, der Strafrechtsbetrieb – sie haben so ihre Tücken.
Die an der heute präsentierten Studie beteiligten österreichischen Wissenschaftler haben, so kann man heute feststellen, das Ihre getan.

Ein Meilenstein – aber erst ein Beginn!
Die Studie ist, wie gesagt, ein Meilenstein. Aber dieser markiert nur die erste Meile eines längeren Weges.
Was Not tut, ist die Erstellung einer Gesamtübersicht aller in Österreich durchgeführten NS-Tötungsverfahren. Und die Digitalisierung der österreichischen Urteile. Das ist eine langwierige und schwierige Arbeit, die ausserdem an nationalen Schmerzgrenzen stösst. Meine österreichischen Freunde haben sich dieser Aufgabe angenommen. Das ist ein Unikum.

Nationale Schmerzgrenzen...
Mir ist kein Fall bekannt, in dem von einer Nation begangene Kriegs-und Menschlichkeitsverbrechen von Angehörigen eben dieser Nation umfassend erschlossen worden sind.
Die Niederländer haben das für die BRD und die DDR gemacht. Aber die in einem 4jährigen Kolonialkrieg im ehemals Niederländisch-Ostindien, heute Indonesien, begangenen Kriegsverbrechen und die dazu entfaltete, fast immer in Ermittlungsverfahren stecken gebliebene Justiztätigkeit schlummert, unbearbeitet, in niederländischen Archiven.
Und mit dem Algerienkrieg und Vietnam ist es nicht besser bestellt. Was die Amerikaner allerdings nicht davon abgehalten hat, bei der Errichtung des Jugoslawientribunals das grosse Wort zu führen. Und das Rad neu zu erfinden. Hätten sie sich der veröffentlichten deutschen Rechtsprechung gewidmet, dann hätten sie dort, z.B. vom Obersten Gericht für die Britische Zone oder – stellenweise – vom Obersten Gericht der DDR und vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe, richtungweisende Entscheidungen für ihre Probleme vorgefunden, für die sie jetzt mit grossem Tamtam Lösungen formulieren. Aber dazu braucht man was in den USA bekanntlich Mangelware ist: etwas weniger Arroganz und die Beherrschung von Fremdsprachen.

Der Vorteil des Nachzüglers
Das österreichische Dokumentationsprojekt kommt spät, aber so hat es den Vorteil des Nachzüglers: man kann von den Erfahrungen anderer profitieren und ihre Arbeitsmethodik in verbesserter Form übernehmen. Für das österreichische Vorhaben ist eine Methodik vorgesehen, die mich neidisch macht. Darauf wäre ich 1963 auch gerne gekommen. Und man kann die Sache so einrichten, dass Vergleiche mit bereits bestehenden Verfahrensübersichten und Rechtsprechungssammlungen anderer Staaten möglich sind. Das will man in Wien tun und dazu die von uns für die deutschen Verfahren benutzten Dokumentationskriterien übernehmen.

Die "Rüter-Kriterien" als angewandte Strafprozessordnung
Das freut mich ganz besonders, zumal diese nicht nur 'Rüter'-Kriterien sind. So werden sie zwar genannt, aber diese Kriterien sind nichts anderes als Informationen, die man in jeder Anklage und in jedem Urteil braucht -und deshalb dort auch findet, so dass alle Verfahren unschwer nach einem einheitlichen Muster und damit wunderbar vergleichbar kategorisiert werden können. Dass meine österreichischen Freunde mir die Erfindung dieser Kriterien zuschreiben, schmeichelt mich natürlich ganz gewaltig; Sie finden sie aber in jeder halbwegs gesitteten Strafprozessordnung. Dass das noch nicht aufgefallen ist, zeigt, dass meine österreichischen Freunde noch ein paar Juristen brauchen.

Die Finanzierung der österreichischen Urteilssammlung
Und sie brauchen Geld. Wer soll das bezahlen? Ganz einfach: derjenige, dem dies nützt. Und das sind die Republik Österreich sowie alle Institutionen, denen das Renommee dieser Republik sachlich wichtig ist oder einfach gefühlsmäßig "am Herzen liegt".

Die Bedeutung des internationalen Vergleichs
Ich habe Ihnen heute Nachmittag bereits gesagt, dass Österreich gekonnt, mit seltsamem diplomatischen Geschick sich dem Schlamassel des Dritten Reiches entzogen, damit aber auch eine lästige Lebenslüge begründet hat. Mit dadurch ist Österreich in eine Ecke gelangt, wo das Land, was ihre Ahndung von NS-Verbrechen betrifft, wahrscheinlich nicht hingehört.
Dokumentieren, dass Österreich wahrscheinlich weit weniger ein "Sonderfall" ist – oder zumindest ein anderer "Sonderfall" – als manche meinen und verbreiten, können Sie nur mit der beabsichtigten Verfahrensdokumentation und dem dadurch ermöglichten internationalen Vergleich.

2 ½ Jahre für Mithilfe bei der Organisierung des Holocaust – 3 Jahre für die Leugnung des Holocaust?
Und das dürfte auch Verfahren und Strafen, wie im Falle von David Irving verhindern. Würden Sie bitte seine Strafe mal vergleichen mit den 2 ½ Jahren, die der Eichmanngehilfe Rajakowitsch 1965 in Wien bekommen hat? Ist die Irving-Strafe nicht ein wenig übertrieben? Was soll das Ganze überhaupt? Pflegen wir doch unsere Idioten. Denn wie soll sonst Ihre und meine Intelligenz sichtbar werden?

Zwei Urteile gegen die Mörder des österreichischen Staatsanwalts Tuppy
Ich will mich aber nicht auf Lobpreisungen und Ermahnungen beschränken. Denn dies ist ein wichtiger Tag. Was angefangen wurde, soll jetzt aber weiter geführt werden.
Als Nachweis für die vielen Möglichkeiten, die eine Gesamtdokumentation bietet, habe ich eine kleine, mit Hilfe unserer Verfahrensdateien erstellte Dokumentation mitgebracht. Und zwar von allen ost- und westdeutschen Verfahren, in denen die Opfer der österreichischen Staatsangehörigkeit zugeordnet worden sind oder die sich mit in Österreich begangenen Verbrechen befassen.
Und außerdem finden Sie dort den Text zweier Urteile, ein westdeutsches und ein ostdeutsches, in dem jene KZ-Wächter abgeurteilt worden sind, die 1939 Staatsanwalt Tuppy, den Ankläger der Dollfuß-Mörder, im KZ Sachsenhausen erschlagen haben.

Geld zieht Geld an...
Und ich bringe den Urhebern des Dokumentationsvorhabens noch eine milde Gabe: die niederländische Stiftung, die gelegentlich auch unseren Projekt unter die Arme greift, spendet für das österreichische Dokumentationsprojekt 10.000 Euro. Das ist zwar nicht die Welt. Aber Holländer glauben, dass Geld Geld anzieht. Ich wünsche, es möge so kommen. Für Österreich wäre es gut angelegt.

Vorstellung des Editionsprojekts "Österreichische Justiz und NS-Verbrechen"

Die niederländische Anschubfinanzierung für das Projekt

 






Die Präsentation erfolgte am 23. März 2006
an der
Universität Graz
im Rahmen der internationalen Tagung "Genocide on Trial"




C. F. Rüter