Wolfgang Scheffler gestorben Zum Tod eines streitbaren Holocaust-Forschers
In der Nacht zum 19. November 2008 verstarb der bekannte Holocaust-Forscher und
Gerichtsgutachter Wolfgang Scheffler.
Scheffler war Mit-Initiator zweier bedeutender Gedenkstät- ten
in Berlin: Haus der Wannseekonferenz und
Topographie des Terrors. International bekannt
geworden ist er in erster Linie als Gerichtsgutachter sowie als Kritiker einer Holocaust-Geschichtsschreibung,
die Gerichtsdokumente entweder überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt oder unkritisch als "Steinbruch"
benützt, aus dem "passende" Stücke ausge- wählt werden.
Biografie
Scheffler war in eine protestantische Leipziger Lehrer-Familie hinein
geboren worden. Obwohl der Vater formal der NSDAP beigetreten war – wie Scheffler bei einer Befragung als gerichtlicher Sachverständiger im Demjanjuk-Prozess aussagte –, stand die Familie der Bekennenden Kirche nahe. Der Kontakt mit evangelischen Jugendlichen, die dem Nationalsozialismus gegenüber kritisch eingestellt
waren, schärfte früh seinen Blick auf die Verbrechen des NS-Regimes und ermutigte ihn, nicht dem Druck zum Eintritt in die Hitler- jugend nachzugeben. Die Begegnung mit einem Zug von KZ-Häftlingen, die kurz vor Kriegsende durch Leipzig getrieben wurden, beeindruckte ihn tief.
1950 flüchtete er aus der DDR nach West-Berlin. Dort setzte er sein Studium der Geschichte fort, wurde Lehrstuhl- assistent beim Politikwissenschaftler Ernst
Fraenkel (der 1941 im amerikanischen Exil die grundlegende Studie über den nationalsozialistischen "Doppelstaat" veröffentlicht hatte)
und konnte 1956 promovieren.
Nach Abschluss seines Studiums übersiedelte Scheffler nach Großbritannien, wo er bis 1961 Senior Research Fellow an der University of Sussex war. Bereits ab 1956 hatte er die Forschungsgruppe "Widerstand und Verfolgung in den Jahren
der NS-Herrschaft" des Berliner Senats mit aufgebaut, die allerdings nach drei Jahren aus Einsparungsgründen aufgelöst wurde. Aus dieser
ersten wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus resultierte eine seiner erfolgreichsten Publikationen: Als
31-jähriger legte er 1960 einen ersten Gesamtüberblick über
"Die nationalsozia- listische Judenpolitik" auf knapp hundert Seiten vor, der den damaligen Forschungsstand zusammenfasste.
Damit qualifizierte er sich als historischer Berater des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland bei der deutschen Beobachtergruppe des Eichmann-Prozesses
in Jerusalem 1961/62. Auf Grund der Erkenntnisse des Jerusalemer Pro- zesses verfasste er 1964 eine Neuauflage der Broschüre, die
bis 1990 eine Auflage von über 130.000 erreichte.
Nach dem Eichmann-Prozess lehrte er vorübergehend an der University of Sussex, ab 1966 arbeitete er
nebenbei als Ge- richtsgutachter, von 1971 bis 1986 widmete er sich aus- schließlich dieser Tätigkeit, wobei er sich auf die
Verbre- chenskomplexe Konzentrations- und Vernichtungslager sowie Massenmorde durch "Einsatzgruppen" konzentrierte. Ein Ergebnis
dieser Gutachtertätigkeit war der mit Ino Arndt verfasste Beitrag "zur Richtigstellung apologetischer
Literatur", die in den 1970-er Jahren reichlich wucherte: "Organisierter Massenmord an Juden in nationalsozia- listischen Vernichtungslagern" (publiziert in Heft 2 des
24. Jahrgangs der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, April 1976).
Nachdem er seit 1969 an der Freien Universität als Honorar- propfessor unterrichtet hatte, wurde er 1986, als 57- jähriger,
endlich zum Professor berufen – am Zentrum für Antisemitismusforschung der
Technischen Universität Berlin (Arbeitsgebiet: Drittes Reich und Holocaust). Mit Ende des Sommersemesters 1995 trat
er in den Ruhestand, war aber bis 2002 weiter an der FU als Honorarprofessor tätig. Ab Mitte der 1990-er Jahre war er in eine
Auseinandersetzung mit der amerikanischen Organisation von Überlebenden des Rigaer Ghettos verwickelt, die ihm einen Forschungsauftrag
für ein Gedenkbuch erteilt hatten. Differenzen über Fertig- stellungstermine, aber auch die Art der Darstellung führten
zu einem langwierigen Gerichtsverfahren, das 1999 mit einem Vergleich endete. Scheffler erarbeitete gemeinsam mit Diana Schulle vom
Centrum Judaicum der Neuen Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße das zweibändige, vom Volksbund Deutsche
Kriegsgräberfürsorge gemeinsam mit weiteren Einrichtungen herausgegebene "Buch der Erinnerung" an die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen
Juden (Saur Verlag, München 2003). Die beiden Scheffler-Schüler Andrej Angrick und Peter Klein publizierten 2006 bei der
Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt unter dem Titel "Die 'Endlösung' in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941–1944" eine Studie, die u.a. auf den Dokumenten der Organisation
der Überlebenden beruhte.
Wolfgang Scheffler, der sich nach langer Krankheit erholt hatte, starb an den Folgen eines Unfalls. Für den 27. und 28. November 2008 hatte er seine Teilnahme an der internatio- nalen
Fachtagung aus Anlass des zehnten Jahrestages der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz geplant, deren Gründung er mit Rat und Zuspruch gefördert hatte.
Wolfgang Scheffler und Helge Grabitz
Während seiner Tätigkeit für die Justizverwaltung lernte Wolfgang Scheffler seine spätere zweite
Frau, die engagierte Staatsanwältin Helge Grabitz, kennen. Die 1934 geborene Rechtsanwältin war 1966 von der Staatsanwaltschaft
Hamburg als Ermittlerin in NS-Prozessen eingestellt worden; als einzige Staatsanwältin war sie diesem Thema treu geblieben und hatte
sich zu einer der besten Kennerinnen der NS-Verbrechen, insbesondere im besetzten Polen, entwickelt und gemeinsam mit Wolfgang Scheffler
auch Publikationen auf der Basis von Gerichtsdokumenten heraus- gegeben, darunter 1993 im Goldmann-Verlag den umfang- reichen Band
"Der Ghetto-Aufstand Warschau 1943 aus der Sicht der Täter und Opfer". Helge Grabitz starb 2003. Zu ihrem Tod schrieb
die Hamburger Tageszeitung Die Welt: "Helge Grabitz hat [...] mit den beschränkten Möglichkeiten des Strafrechts, Wiedergutmachung geleistet:
Viele Verfahren kamen nur dank ihrer Hartnäckigkeit zustande, viele Über- lebende der KZs und Ghettos sagten nur dank ihres
Engage- ments überhaupt aus.
Zusammen mit ihrem zweiten Mann, dem Berliner Historiker Wolfgang Scheffler, hat die 1998 pensionierte Oberstaats- anwältin für
die Erforschung des Rassenwahns mehr geleistet als alle Lehrstühle für Holocaust Studies und Genozidforschung zusammen."
Von der notwendigen Quellenkritik beim Arbeiten mit Gerichtsakten
Schefflers Tätigkeit als akademischer Lehrer war unter anderem vom Bestreben geprägt, seine Studentinnen und Studenten im Umgang mit Justizdokumenten zu unterrichten.
Das mangelnde Bewusstsein von Fachkollegen bezüglich der quellenkritischen Probleme bei der Arbeit mit Gerichtsakten war eines der Themen, mit denen er immer wieder "an- eckte". Geradezu "heiliger Zorn" erfasste ihn, wenn in Publi- kationen die Ergebnisse von jahrelangen Gerichtsverfahren mit akribischer Beweisaufnahme und der Einvernahme Hunderter ZeugInnen und Beschuldigter ignoriert und längst widerlegte Legenden reproduziert wurden.
1994 machte er im Berliner "Jahrbuch für Antisemitismusforschung" seine Kritik öffentlich und wählte hierfür eines der renommiertesten Fachbücher der Holocaust-Forschung, die damals in deut- scher Übersetzung und Bearbeitung erschienene "Enzyklo- pädie des Holocaust". Dieses Lexikon gebe, so Scheffler, insbesondere
den Stand der Forschung zur jüdischen Geschichte wieder. Gerade die
hebräische und die englische Ausgabe ließen aber viele Erkenntnisse der Täterforschung
unberücksichtigt, die auch in der deutschen Version nur partiell eingearbeitet
werden konnten.
Über gemeinsame Auffassungen zur Bedeutung der Quellen- kritik beim Arbeiten mit Gerichtsakten entwickelte sich in den 1990er Jahre ein lockerer Diskussionszusammenhang zwischen ihm und den MitarbeiterInnen der beiden am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes durchgeführten Forschungsprojekte
Die Verfahren vor dem Volksgericht Wien (1945-1955)
als Geschichtsquelle (1993– 1996) und Die Nachkriegsgerichtsbarkeit als nicht-bürokra- tische Form der Entnazifizierung: österreichische Justizakten
im europäischen Vergleich (1996–1998), aus denen 1998 die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am DÖW hervorging.
Wolfgang Scheffler als Gutachter
In diesem Zeitraum hat er fast fünzig Gutachten erstellt, darunter im Wiener Prozess gegen Adolf Eichmanns "Trans-
portchef" Franz Novak. In der dritten Hauptverhandlung
gegen Novak (2.–18.12.1969) bekundete er als Sachver- ständiger, dass unter den Mitarbeitern Eichmanns im Reichs-
sicherheitshauptamt sowie im Sondereinsatzkommando in Ungarn 1944 kein Fall bekannt war, auf den "Befehls- notstand"
zugetroffen hätte. Die Wiener Erfahrung, dass die Verteidigung seine Bestellung als Gutachter mit dem Hinweis auf "mangelnde
Objektivitöät" abzulehnen versuchte, wiederholte sich später in Düsseldorf: Im großen Majdanek-Prozess
1975–1981 lehnte der Verteidiger der von den ehemaligen Häftlingen
"blutige Brygida" genannten Hildegard Lächert, die des 1196-fachen Mordes angeklagt war, Wolfgang Scheffler als
Gutachter
mit der Begründung ab, dass er bei einem jüdischen Professor promoviert habe.
1981 war Scheffler Gutachter in dem in Cleveland/Ohio geführten Verfahren zur Ausweisung von John (Ivan)
Demjanjuk aus den USA, 1987 erstellte er Gutachten im Jerusalemer Prozess gegen
Demjanjuk sowie im Prozess gegen den ehemaligen Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie.
In dem von Helge Grabitz im Auftrag der Justizbehörde Hamburg herausgegebenen Band "Täter und Gehilfen des
Endlösungswahns. Hamburger Verfahren wegen NS-Gewalt- verbrechen 1946-1996" sind einige der wichtigsten Gutachten
Schefflers abgedruckt, die alle in den Jahren 1973/74 erstellt wurden:
* Zur Judenpolitik und Judenverfolgung in der NS-Zeit unter besonderer Berücksichtigung
der Maßnahmen gegen Juden im Generalgouvernement;
* Zur organisatorischen und verfassungsorganisatorischen Einordnung der SS und Polizei unter besonderer Berück- sichtigung der
"Aktion Reinhard" im Generalgouvernement;
* Zur Zahl der in den Vernichtungslagern der "Aktion Rein- hard" ermordeten Juden;
* Zur Rolle der Zivilverwaltung bei der Durchführung der "Endlösung der Judenfrage" im Reichskommissariat Ostland.
Zu den für die Erforschung des Holocaust wichtigsten Gutachten Schefflers zählt zweifellos "Zur Judenverfolgung des
nationalsozialistischen Staates – unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Generalgouvernement –
und zur Geschichte des Lagers Majdanek im System nationalsozialistischer Konzentrationslager", erstattet vor der XVIII.
Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf (XVII 1/75 (s)).
Die von ihm geplante Publikation des Gutachtens konnte er nicht mehr realisieren.
Elissa Mailänder-Koslov, die intensiv über Täterinnen im KZ Majdanek geforscht hat, würdigte Schefflers Gutachten – in ihrer Rezension des Bandes "Lublin-Majdanek. Das Konzentrations-und Vernichtungslager im Spiegel von Zeugenaussagen" – als "hervorragend" und
"nach wie vor aktuell".
Ebenso unpubliziert blieb der Band "Theresienstadt – die tödliche Täuschung", den Wolfgang Scheffler gemeinsam mit seinem Sohn Detlev vorbereitete und der von der "Aktion Sühnezeichen" herausgegeben werden sollte.
Im November 2000 resümierte Scheffler auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Mühlheim an der Ruhr zu den NS- Prozessen und der politischen Kultur in der
Bundesrepublik der 60er Jahre seine Gutachter-Tätigkeit.
Dabei betonte er die große Bedeutung der wissenschaftlichen Gerichtsgut- achten, die dazu beitrugen, dass die NS-Prozesse
die Selbst- aufklärung der Gesellschaft förderten. Aus dem Veranstaltungsbericht der Evangelischen Akademie Mühlheim/R.: Die Gutachtertätigkeit erfordert, so Scheffler, ein hohes Maß an persönlicher und
fachlicher Unabhängigkeit. Scheffler berichtete darüber, wie ihm die Arbeit immer wieder erschwert wurde, nicht zuletzt von der
Freien Universität Berlin. Ernst Fraenkel habe beispielsweise persönlich verhindert, dass Scheffler am Auschwitz-Prozess mitwirken
konnte. Über genauere Umstände schwieg sich Scheffler dabei allerdings aus. Viele Gerichte verzichteten auf Gut- achten, andere
versuchten Schefflers Person zu diskredi- tieren oder seine Glaubhaftigkeit anzuzweifeln, indem sie nach jüdischen Angehörigen
suchten. Hinzu kamen technische Probleme: die Aktenbestände waren in den Archiven verstreut, noch nicht ins Deutsche übersetzt
oder schlecht organisiert verwaltet.
Wichtige Themen betrafen juristische Fragen wie z.B. den "Befehlsnotstand" oder Opferzahlen, aber auch historische
Problemstellungen, so z.B. die komplexen Personalstrukturen im SS- und Polizeiapparat.
Nach Schefflers Auffassung sei aus den zahlreichen Prozessen gegen NS-Straftäter viel zu wenig Information an eine breitere
Öffentlichkeit gelangt. Eine Teilschuld daran hätten sicherlich auch die Historikerinnen und Historiker, denn nicht selten
wurden einmalige Gelegenheiten für wissenschaftliche Arbeit versäumt. Charakteristisch waren die Getto-Verfahren in den 50er
und 60er Jahren, die vor leeren Bänken stattfanden und von den Medien kaum beachtet wurden. Nicht selten waren alle Überlebenden
angereist, die der Forschung als Zeuginnen und Zeugen zur Verfügung hätten stehen können. Gleiches gilt auch für
eine große Anzahl potentieller Verdächtiger.
Zwar zeigt sich Scheffler aufgrund dieser Versäumnisse nicht resigniert, jedoch beendete er seine Ausführungen mit einem
vielsagenden Fazit: "Das Eis auf dem wir wandeln, kann sehr dünn sein."
Beim Verlag Edition Hentrich noch erhältlich:
* Die zu Schefflers
65. Geburtstag von Helge Grabitz, Klaus Bästlein und Johannes Tuchel herausgegebene Festschrift "Die Normalität des Verbrechens.
Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltver- brechen",
mit Beiträgen von Christopher Browning, Henry Friedlander, Hans Mommsen,
Sybil Milton, Hubert Rottleuth- ner, Peter Steinbach und anderen.
* Der Band "Letzte Spuren",
in dem Wolfgang Scheffler ge- meinsam mit Helge Grabitz am Beispiel der erhalten geblie- benen Dokumente über die jüdische
Belegschaft der zu- nächst im Warschauer Ghetto und nach dessen Liquidierung im SS-Ausbildungslager Trawniki tätigen
Danziger Firma Schultz & Co. GmbH, die Strick- und Pelzwaren für die Wehrmacht produzierte, das Schicksal jüdischer
Zwangs- arbeiterInnen unter der deutschen Herrschaft in Polen zeigte. (Der Band enthält den Faksimile-Nachdruck eines Foto-Albums
der Fa. Schultz.)