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Das Massaker an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern zu Kriegsende in Deutsch-Schützen (Burgenland) und seine gerichtliche Ahndung durch die österreichische Volksgerichtsbarkeit


Einsatz der ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter beim "Südostwallbau"


Die ersten (konkreten) Maßnahmen für den Ausbau einer Grenzschutzstellung waren, bedingt durch die ständigen Niederlagen an der Ostfront, im September 1944 getroffen worden. Für das Bewachungspersonal, die Bereitstellung der "Schanzer" und die Unterkünfte für das Schanzpersonal waren die Parteidienststellen verantwortlich. Neben Frauen, Greisen, Freiwilligen und großen Teilen der Hitlerjugend der grenznahen Gebiete waren Zehntausende von OstarbeiterInnen, Häftlingen, FremdarbeiterInnen und, als die weitaus größte Gruppe, die aus Ungarn in Fußmärschen nach Österreich getriebenen Juden bei diesem letztendlich völlig wirkungslosen Projekt eingesetzt. Die ungarischen Juden waren meist zu Holzarbeiten und zum Graben von Panzerfallen eingeteilt; das Schanzen mußte unter den unmenschlichsten Arbeits- und Lebensbedingungen durchgeführt werden. Die sanitären Zustände und die Verpflegungssituation waren katastrophal, eine medizinische Versorgung kaum vorhanden. Die Menschen wurden in geräumten Schulen und Gasthäusern untergebracht bzw., was viel öfter der Fall war, in Scheunen und Ställen eingepfercht.

Mit der Durchführung der Arbeiten am "Südostwallbau" war die NSDAP betraut, als deren oberste örtliche Instanz im heutigen Südburgenland die Gauleitung Steiermark zuständig war. Die zur Durchführung der Arbeiten erforderliche Unterteilung gliederte sich in sachliche und örtliche Referate. Zu den ersteren zählten Arbeits- und Kräfteaufbringung, technische Ausführung, Verpflegung und Unterkunft, Transport und Auto- und Fuhrwesen. Diese Referate bildeten den sogenannten Gauführungsstab. Die örtlichen Referate wurden in sechs Abschnitte, von welchen der sechste Abschnitt Oberwart-Fürstenfeld war, unterteilt. Dieser Abschnitt war in örtlicher Beziehung in drei Unterabschnitte aufgeteilt, die wiederum in Teilabschnitte unterteilt waren. Der Teilabschnitt Rechnitz I erstreckte sich vom Aussichtsturm Geschriebenstein bis zum Kreuzstadel in Rechnitz, der Teilabschnitt Rechnitz II vom Kreuzstadel bis zum Bahnhof in Rechnitz. Der Teilabschnitt III, Schachendorf, umfaßte das Gebiet vom Bahnhof Rechnitz bis Schandorf, der Teilabschnitt Burg (IV) das Gemeindegebiet Schandorf und Burg; die Teilabschnitte Eisenberg (V) und Deutsch-Schützen (VI) bestanden aus dem Gemeindegebiet Eisenberg bzw. Deutsch-Schützen.

Im März 1945 setzte mit dem Herannahen der sowjetischen Truppen der Rückzug der ungarischen Zwangsarbeiter nach Westen ein. Marschunfähige wurden vor dem Abmarsch - nur in wenigen Fällen wurden die Juden per Bahn oder Schiff "evakuiert" - von SA- und SS-Trupps ermordet. Auf den sogenannten Todesmärschen, die durch das südliche Burgenland (Oberwart), die Steiermark (Hartberg, Weiz, Graz, Bruck an der Mur, Leoben, Trofaiach, Eisenerz, Hieflau, Liezen, St. Gallen) und Oberösterreich (Steyr, Enns) bis ins Konzentrationslager Mauthausen führten, wurden die Juden von den Wachmannschaften, die sich aus "bewaffneten Zivilisten" und halb- oder volluniformierten Volkssturmmännern zusammensetzten, grausam mißhandelt und nicht mehr Marschfähige ebenfalls ermordet. Die wenigen überlebenden Zwangsarbeiter wurden vom Zeltlager Mauthausen in das 50 km westlich gelegene Konzentrationslager Gunskirchen in Marsch gesetzt, wo sie am 5. Mai 1945 von amerikanischen Truppen befreit wurden.


Das Massaker von Deutsch-Schützen

Der Abschnitt Oberwart-Fürstenfeld des "Südostwalls", der sich in verschiedene Unterabschnitte gliederte, unterstand im Bereich des Gebietes Rechnitz-Deutsch-Schützen (dieses umfaßte sechs Unterabschnitte) dem damaligen Kreisleiter von Oberwart, Eduard Nicka. Leiter des Unterabschnittes Deutsch-Schützen wurde im Oktober 1944 der HJ-Bannführer Alfred Weber, welcher der Befehlsgewalt des Kreisleiters unterstand und der in Deutsch-Schützen als Führer der Hitlerjugend (HJ) den Bau der Schützengräben zu leiten hatte. Neben Angehörigen der HJ, von denen der Großteil im Herbst 1944 nach Deutsch-Schützen gekommen war, und Ortsansässigen wurden in diesem Unterabschnitt ab Jänner 1945 hauptsächlich ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter, zuletzt etwa 500, eingesetzt. Der ehemalige Kreisleiter von Oberwart, Eduard Nicka, hat dazu folgende zynische Erklärung abgegeben:
" [...] und dann ist der Umstand eingetreten, dass von Ungarn Juden in Massen gekommen sind und wir wußten nicht wohin mit ihnen. Wir wollten sie zuerst abtransportieren, aber da kam von Graz der Befehl, dass sie nicht in das Reichsgebiet gebracht werden dürfen, wir sollen sie kasernieren. Auf einmal haben die Juden zu arbeiten begonnen, ich weiss selbst nicht wieso. Zuerst ist der Abschnittsleiter von Rechnitz gekommen und hat mir mitgeteilt, dass sich die Juden in den Stellungsbau eingeschalten haben. Ich habe auch mit Graz gesprochen und es wurde mir mitgeteilt, dass ich über die Juden keine Verfügungsgewalt habe. Ja es ging soweit, dass wir nicht einmal die Arbeitsleistung der Juden überprüfen konnten. Alles was wir für sie zu tun hatten war, dass wir für ihre Verpflegung und Unterkunft zu sorgen hatten."
Die Unterbringung der ungarischen Juden erfolgte in Deutsch-Schützen in zwei großen Getreidespeichern, die Verpflegung durch die Pfarrküche, die Bewachung während des Arbeitseinsatzes durch einige SA-Männer.

In der letzten Märzwoche 1945 sollten die jüdischen Zwangsarbeiter aufgrund der nahenden Front Richtung Hartberg (Steiermark) "evakuiert" werden. Laut Anklageschrift vom 2. Juli 1946 ordnete der HJ-Bannführer Weber in diesem Moment - offenbar auf höheren Befehl - die Ermordung der ungarischen Juden an Ort und Stelle an. Dazu habe er sich der Unterstützung dreier Angehöriger der SS-Division Wiking, welche am Abend des 28. März 1945 von der Front nach Deutsch-Schützen gekommen waren, ebenso wie der von einigen Feldgendarmen (diese waren erst am Morgen des 29. März 1945 im Ort eingetroffen) versichert. Als Hinrichtungsstätte habe Weber eine durch Holzschlag entstandene Lichtung im Wald südwestlich der alten Kirche von Deutsch-Schützen ausgewählt. Dort habe sich ein in zick-zack-Form ausgehobener Laufgraben befunden, den Weber als Massengrab zu benützen beschlossen habe. Am Morgen des 29. März 1945 (Gründonnerstag) verschwanden die vier SA-Bewacher der ungarischen Zwangsarbeiter ohne Erlaubnis, vermutlich, weil sie sich vor der immer näher rückenden Front in Sicherheit bringen wollten. An ihrer Stelle soll Weber nun den HJ-Führer Aldrian und einige HJ-Führer aus der Umgebung, bei denen er auf besondere Willfährigkeit hoffen konnte, in das Vorhaben eingebunden haben. Zwischen 7 und 8 Uhr morgens habe er einem HJ-Führer den Befehl erteilt, die drei SS-Leute zum Holzschlag zu geleiten und dabei Wein mitzunehmen. Vier andere HJ-Führer mußten die jüdischen Zwangsarbeiter in Gruppen von 20 bis 30 Mann bis zur alten Kirche führen, wo sie von Aldrian übernommen wurden, der sie bis zum Waldrand brachte. Von dort eskortierten sie die Feldgendarmen bis zum ausgehobenen Laufgraben. Zum weiteren Vorgehen heißt es in der Anzeige des Bezirksgendarmeriekommandos Oberwart vom 31. August 1945 an die Staatsanwaltschaft Wien:

"Dortselbst sicherten 4 Feldgendarmen und 1 SS-Mann den Platz durch Aufstellen rundherum des Grabens. Die Juden wurden vorerst angewiesen ihr Werkzeug abzulegen. Dann mußten sie vortreten und ihre Uhren abgeben. [...] Dann mußten sich die Juden nebeneinander im Graben aufstellen. Sodann schoß der SS Unterscharführer Storms mit einer Pistole, und der SS Hauptscharführer und 1 Feldgend. mit einer Maschinenpistole die Juden nieder. Noch bevor die Juden in den Graben gingen, flehten sie die SS Männer mit gefalteten Händen an, sie mögen sie doch nicht erschießen. Doch dies war vergebens und die SS Männer versetzten mehreren Juden mit den Füßen Tritte, so daß diese in den Graben fielen."

Die übrigen Feldgendarmen und zwei HJ-Führer übernahmen inzwischen im Umkreis von 50-80 Metern die "Sicherung". In den Pausen zwischen den Erschießungen tranken die ausführenden Täter den mitgebrachten Wein. Auf diese Weise wurden bis ungefähr 9 Uhr an die 60 Menschen, geteilt in zwei Gruppen, ermordet. Eine dritte Gruppe von 150 Juden, die bereits bei der alten Kirche gewartet hatte, wurde nur dadurch verschont, daß - angeblich von der Kreisleitung Oberwart - der Befehl ausgegeben wurde, die Erschießungen einzustellen und mit den überlebenden Juden Richtung Hartberg abzumarschieren. Da die Front bereits in der Nähe war, hätten sich die Täter bei Fortsetzung der Erschießungen kaum in Sicherheit bringen können.
Der HJ-Bannführer Weber übernahm mit den drei SS-Leuten die Eskorte der Kolonne, die über Kohfidisch nach Hartberg zu marschieren hatte. Zuvor erteilte er den schon bisher zur Mitwirkung an der Ermordung der ungarischen Juden herangezogenen HJ-Führern und drei weiteren, erst im Laufe des Vormittags in Deutsch-Schützen eingetroffenen HJ-Führern den Befehl, die ermordeten Juden unter Aufsicht des HJ-Führers Aldrian am Tatort zu begraben. Während diese Arbeit in Gang war, soll Aldrian einen noch lebenden Juden erschossen haben. Die beteiligten HJ-Führer marschierten der mittlerweile aufgebrochenen Kolonne nach, holten sie in der Nähe von Kohfidisch ein und leisteten mit wechselnder Einteilung Eskortendienst. Am Ende des Zuges ging stets einer der SS-Männer, der offenbar die Aufgabe hatte, nicht mehr marschfähige Juden zu ermorden. Dies soll zum ersten Mal am 30. März 1945 außerhalb von Jabing geschehen sein, wo der SS-Mann S. einen erschöpften Juden ermordet haben soll. Drei HJ-Führer hätten sich, so ein Anklagepunkt vom 2. Juli 1946, der im weiteren Verlauf des Prozesses eine wesentliche Rolle spielen sollte, bereits vor der Tat zur Begrabung der Leiche des späteren Opfers bereit erklärt und führten diese Tat nach der Ermordung des jüdischen Zwangsarbeiters auch aus. Vor Oberdorf sollen zwei weitere Juden erschossen worden sein (zu dieser Zeit sei ein HJ-Führer mit einem SS-Mann am Ende des Zuges gegangen). Über Vorfälle auf dem weiteren Marsch ist nichts bekannt. In Hartberg wurden die ungarischen Juden Parteifunktionären übergeben; ihr weiteres Schicksal war nicht Gegenstand der Ermittlungen des Verfahrens.

Dieses Verbrechen war nach 1945 Gegenstand zweier, im Abstand von 10 Jahren geführten Prozesse. Während der erste Prozeß noch unter die Zuständigkeit der Volksgerichte, einer besonderen Form der Gerichtsbarkeit, auf die ich im folgenden näher eingehen werde, fiel, wurde der zweite von einem ordentlichen Geschworenengericht geführt wurde.


Volksgerichtsbarkeit

Die Grundlage für die Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich bildeten das Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP ("Verbotsgesetz", VG) vom 8. Mai 1945 und das Kriegsverbrechergesetz (KVG) vom 26. Juni 1945 . Für die Verfolgung der durch diese Gesetze neu geschaffenen strafrechtlichen Tatbestände wurde eine besondere Gerichtsbarkeit in Form der sogenannten "Volksgerichte" eingerichtet, weil die bestehenden Strafgesetze für die Ungeheuerlichkeit der nationalsozialistischen Verbrechen nicht ausreichten. Charakteristisch für die Gerichtsbarkeit war, daß zwischen den Tätern und jenen, die nicht aktiv an den Verbrechen der Nationalsozialisten teilgehabt haben, unterschieden wurde. Die Reintegration der sogenannten "Mitläufer" sollte im Laufe der Zeit eine immer größere Rolle spielen. Dies wurde in der Folge am Verlauf der Gesetzgebung und der immer größer werdenden Bedeutung der Amnestiegesetze bis hin zur Aufhebung der Volksgerichtsbarkeit im Jahre 1955 deutlich sichtbar und fand ihren Abschluß im Amnestiegesetz des Jahres 1957, durch welches das Kriegsverbrechergesetz aufgehoben wurde.

Die wichtigsten Paragraphen des Kriegsverbrechergesetzes - darunter auch jene, welche im Falle des Verbrechens von Deutsch-Schützen Anwendung fanden - waren unter anderem: § 1 KVG (Kriegsverbrechen im engeren Sinn - Verbrechen, die den natürlichen Anforderungen der Menschlichkeit und den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts oder des Kriegsrechts widersprechen), § 3 KVG (Quälereien und Mißhandlungen), § 4 KVG (Verletzungen der Menschlichkeit und der Menschenwürde aus politischer Gehässigkeit oder unter Ausnützung dienstlicher oder sonstiger Gewalt ), § 5a KVG (Vertreibung aus der Heimat), § 6 KVG (Mißbräuchliche Bereicherung, unter diesen Tatbestand fallen vor allem die "Arisierungen" in den Jahren 1938 und 1939) sowie § 7 KVG (Denunziation).

Die Volksgerichte waren durch Artikel V (§§ 24-26) des VG in der Fassung 1945, StGBl. 13/1945 als neue Gerichtsform geschaffen worden, welche gemäß § 13 Abs. 1 KVG auch für die Ahndung der im KVG benannten Straftatbestände zuständig war. Die besonderen Verfahrensbestimmungen wurden sowohl in diesen beiden Gesetzen als auch in einem eigenen Gesetz, dem "Volksgerichtverfahrens- und Vermögensverfallsgesetz" , festgehalten. Die Senate der Volksgerichte wurden bei den Landesgerichten am Sitz der Oberlandesgerichte Wien, Graz, Linz und Innsbruck gebildet. Außensenate wurden auch an anderen Gerichtsorten, wie in Klagenfurt und Leoben, gegründet. Das Volksgericht setzte sich jeweils aus zwei Berufsrichtern, von denen einer den Vorsitz führte, und drei Schöffen zusammen. Die Bestimmungen der Strafprozeßordnung über die ordentlichen Rechtsmittel (Einspruch gegen die Anklageschrift, Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde sowie Beschwerde gegen Beschlüsse des Gerichts) wurden in den Volksgerichtsverfahren, in denen die Volksgerichte grundsätzlich in erster und einziger Instanz entschieden, außer Kraft gesetzt. Die verhängten Strafen waren sofort zu vollstrecken. Auch die Bestimmungen über die Umwandlung der Strafe und in der ursprünglichen Fassung sogar über das außerordentliche Milderungsrecht fanden in Volksgerichtsverfahren keine Anwendung. Gemäß § 26 Abs. 2 VG konnte auf Antrag des Anklägers gegen Personen, deren Verfolgung nicht durchführbar oder deren Verurteilung nicht möglich war, ein selbständiges Verfahren vor dem Volksgericht auf Verfall des gesamten Vermögens der betreffenden Person geführt werden. Um allfällige krasse Fehlurteile pro oder contra zu vermeiden, wurde mit 30.11.1945 noch von der Provisorischen Staatsregierung ein Verfassungsgesetz beschlossen (kundgemacht im BGBl. 4/1946, "Überprüfungsgesetz"), durch welches dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofes (OGH) ermöglicht wurde, im Falle erheblicher Bedenken gegen ein Urteil dasselbe zur Überprüfung einem Dreirichtersenat des OGH zu übergeben. Der Senat konnte das Urteil aufheben und zur neuerlichen Verhandlung an das gleiche oder an ein anders zusammengesetztes Volksgericht verweisen. Gemäß § 3 Absatz 1 des Volksgerichts- und Vermögensverfallsgesetzes konnte das Volksgericht seine Unzuständigkeit hinsichtlich eines Tatbestandes mit Urteil aussprechen und die Strafsache in das ordentliche Verfahren verweisen.

Der schrittweise Übergang zur ordentlichen Gerichtsbarkeit war zum Teil bereits durch Amnestiebestimmungen eingeleitet worden. Zu diesen zählten das Bundesverfassungsgesetz vom 21.4.1948 (BGBl. 99/1948) über die vorzeitige Beendigung der im Nationalsozialistengesetz vorgesehenen Sühnefolgen für minderbelastete Personen, das Bundesverfassungsgesetz vom 22.4.1948 (BGBl. 70/1948) über die vorzeitige Beendigung der im Nationalsozialistengesetz vorgesehenen Sühnefolgen für jugendliche Personen, das Bundesverfassungsgesetz vom 17.12. 1951 über die Befreiung der Spätheimkehrer von der Verzeichnungs- und Sühnepflicht sowie die Einstellung von Strafverfahren und die Nachsicht von Strafen gegen dieselben (BGBl. 159/1953), des weiteren das Bundesverfassungsgesetz vom 18.7.1956, Vermögensverfallsamnestie, durch welches Gruppen ehemaliger Nationalsozialisten in Ansehung der Strafe des Vermögensverfalls amnestiert werden (BGBl. 155/1956, mehrfach novelliert, zuletzt am 13.6.1962, BGBl. 173/1962). Den Abschluß der Amnestiebestimmungen stellte das Bundesverfassungsgesetz vom 14. März 1957 dar, "womit Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes, BGBl. Nr. 25/1947, abgeändert oder aufgehoben werden (NS-Amnestie 1957)". Dieses Gesetz enthält Bestimmungen über die Aufhebung der Registrierungspflicht, über die Beendigung der Sühnefolgen sowie strafrechtliche Bestimmungen. Letztere normierten, daß ein Strafverfahren wegen Tatbeständen nach dem VG und anderen Spezialgesetzen nicht einzuleiten bzw. ein bereits eingeleitetes Verfahren grundsätzlich einzustellen sei. § 13 Absatz 2 hebt das KVG (BGBl. 198/1947) auf; fällt aber eine nach diesem Gesetz mit Strafe bedroht gewesene Handlung auch unter eine andere strafgesetzliche Vorschrift, so ist sie nach dieser zu verfolgen. Durch die nachfolgenden Paragraphen wurde in gewissen Fällen Strafnachsicht erteilt bzw. die Tilgung der Verurteilung ausgesprochen.


Einleitung des Verfahrens und der Voruntersuchung

Das Massaker von Deutsch-Schützen Ende März 1945 war, wie schon erwähnt, Gegenstand zweier durch zehn Jahre voneinander getrennter Prozesse und verdeutlicht die oben angedeutete Entwicklung innerhalb der Volksgerichtsbarkeit. Das Verfahren war unter der Gerichtszahl Vg 2d Vr 2059/45 eingeleitet worden; es wurde nach der Ausfindigmachung des ehemaligen HJ-Bannführers Weber im Jahre 1955 unter der Zahl Vg 8e Vr 661/55 weiter- und nach Auflösung der Volksgerichts- und Überleitung in die Geschworenengerichtsbarkeit unter der Zahl 20a Vr 661/55 zu Ende geführt.

Erste Erhebungen wurden durch die russische Ortskommandantur Oberwart vermutlich im Sommer 1945 durchgeführt. Gegen den 20. Mai 1945, so gab ein Zeuge beim Bezirksgendarmeriekommando Oberwart an , habe ihn ein ungarisches Militärkommando mit der Bestattung der Leichen der Juden, die bis dahin nur von einer dünnen Erdschicht bedeckt gewesen waren, beauftragt. Zwei Tage später hätten Angehörige einer ungarischen Einheit 47 Leichen exhumiert und die Papiere sichergestellt, wobei sich laut seiner Aussage im Graben noch 10 bis 12 Leichen befunden haben dürften. Am 29. August 1945 trat die sowjetische Bezirkskommandantur den Fall dem Bezirksgendarmeriekommando Oberwart zur weiteren Behandlung ab.

Am 31. August 1945 erstattete das Bezirksgendarmeriekommando Oberwart Anzeige gegen einen ehemaligen HJ-Führer wegen Verdachts der Teilnahme an einem Kriegsverbrechen und am 20. Oktober 1945 erstattete das Bezirksgendarmeriekommando Oberwart eine Nachtragsanzeige gegen den ehemaligen HJ-Bannführer Weber und fünf weitere ehemalige HJ-Führer vom an die Staatsanwaltschaft Wien. Mit Beschluß vom 27. September 1945 wurde nach Antrag der Staatsanwaltschaft vom 20. September 1945 die Voruntersuchung gegen den ehemaligen HJ-Bannführer Weber, den mit Namen bekannten ehemaligen SS-Mann S., den HJ-Führer Aldrian und die übrigen acht beschuldigten ehemaligen HJ-Führer eingeleitet.

Die acht ehemaligen HJ-Angehörigen wurden noch vor Ende 1945 ausfindig gemacht und in U-Haft genommen. Obwohl Weber, wie auch der SS-Angehörige S. und Aldrian, bereits am 12. Juli 1946 im Fahndungsblatt ausgeschrieben wurde, konnte er erst 1955 verhaftet werden , weshalb das in Deutsch-Schützen begangene NS-Gewaltverbrechen in zwei durch 10 Jahre voneinander getrennten Prozessen abgehandelt wurde.


Erster Prozeß

Am 2. Juli 1946 wurde im ersten Prozeß gegen die nunmehr sieben beschuldigten ehemaligen HJ-Führer Anklage erhoben: Die jugendlichen Angeklagten, die alle aus dem Südburgenland stammten, hatten eine "Erziehung" im Sinne des nationalsozialistischen Regimes genossen: Über das deutsche Jungvolk waren alle Beschuldigten zur HJ gekommen, in deren Rahmen sie zum Teil Wehrertüchtigungslager in Sachsen, Graz, Reininghausen und im Allgäu, die Gebietsführerschule in Retzhof und in Leibnitz bzw. Segelfliegerlager in Spitzenberg und Marburg besucht hatten. Zum Zeitpunkt der Tat waren sie 17 Jahre alt, das heißt Schüler der Handelsschule, der kaufmännischen Wirtschaftsschule, des Gymnasiums bzw. der Lehrerbildungsanstalt gewesen. In fünf Fällen lautete die Anklage auf Mitschuld am bestellten Mord: Ein Beschuldigter habe die unmittelbaren Täter (die SS-Angehörigen) an den Tatort geführt, sie mit Wein versorgt, mit welchem sie sich zur hemmungslosen Ausführung der Tat alkoholisieren konnten, und während der Tat Sicherungsdienste geleistet. Die anderen vier HJ-Führer hätten laut Anklageschrift die späteren Opfer in die Nähe des Tatortes geführt, obwohl sie über deren bevorstehende Erschießung Bescheid gewußt hätten. Gegen drei ehemalige HJ-Führer wurde Anklage wegen Mitschuld am gemeinen Mord erhoben: Die drei Beschuldigten hätten sich am 30. März 1945 in der Nähe von Jabing schon vor der Ermordung der späteren Opfer zur Begrabung der Leichen bereit erklärt. Ein HJ-Führer wurde schließlich noch wegen vollbrachten gemeinen Mordes in einem Fall und Mitschuld am gemeinen Mord angeklagt, da er am 30. März 1945 in der Nähe von Oberdorf einen ungarischen Juden ermordet und ein weiteres Opfer zwecks Ermordung von der Straße in den Wald getrieben und damit zur sicheren Vollstreckung der Ermordung durch einen unbekannten SS-Angehörigen beigetragen haben soll. Sämtliche Beschuldigte wurden nach § 1 KVG - Verbrechen gegen die Menschlichkeit - angeklagt. In der Begründung der Anklageschrift wurde der zu diesem Zeitpunkt noch flüchtige Alfred Weber als Hauptschuldiger angeführt, der - entgegen der ihm erteilten Weisung, die Juden Richtung Hartberg abzutransportieren - die Ermordung der jüdischen Zwangsarbeiter an Ort und Stelle befohlen haben soll. Dazu habe er sich der Mithilfe der HJ-Angehörigen bedient. Von einer Anklageerhebung wegen der Vorfälle während des Begrabens der Opfer wurde abgesehen, da den Beschuldigten der vom Gesetz geforderte böse Vorsatz, nämlich gegen die natürlichen Anforderungen der Menschlichkeit zu verstoßen (etwa die Opfer wissentlich lebend zu begraben) gefehlt habe, und ihnen auch nicht die Absicht, durch Begraben der Ermordeten ihre Untat zu verwischen, nachgewiesen werden konnte.

Im Gegensatz zu den Verantwortungen der ehemaligen HJ-Führer in den verschiedenen Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter wurde in der Anklageschrift festgehalten, daß
"die Erschiessungen der Juden in Deutsch-Schützen [...] als ein von Weber bestellter Mord im Sinn des Strafgesetzbuches zu qualifizieren [sind]. Das musste in Deutsch-Schützen jedermann klar sein und keine Berufung auf Befehl eines Vorgesetzten oder die besonderen Verhältnisse in Frontnähe können die Mitwirkung an der Massenerschiessung, die ohne jede Verschleierung recht- und gesetzwidrig erfolgte, anschuldigen. Es darf nicht übersehen werden, dass die eigentliche Wachmannschaft, SA-Leute, es vorzogen sich aus dem Staub zu machen. Ein Beweis, dass dies ohne weiteres möglich gewesen wäre. Auch die heute Beschuldigten [...] konnten dies trotz ihres jugendlichen Alters einsehen und hätten auch die Möglichkeit gehabt, nach dieser Einsicht zu handeln."
Vor dem Untersuchungsrichter hatten fünf der ehemaligen HJ-Führer nämlich noch durchwegs den Hauptbeschuldigten Weber belastet, der laut Anklageschrift den Erschießungsbefehl erteilt hätte, Leiter der Aktion gewesen sei und schließlich die Begrabung der Leichen angeordnet hätte. Zwei Beschuldigte hatten zu ihrer Verteidigung angeführt, daß sie den militärischen Gesetzen unterstanden hätten und bei Befehlsverweigerung aufgrund des herrschenden Standrechtes erschossen worden wären, ein Argument, welches bei der Hauptverhandlung auch von den anderen Jugendlichen verstärkt eingesetzt wurde. Die drei HJ-Führer, die am 29. März 1945 erst im Laufe des Vormittages in Deutsch-Schützen eingetroffen waren, hatten ausgesagt, daß die Erschießungen zu diesem Zeitpunkt schon durchgeführt gewesen wären und sie von Weber "nur" den Befehl zum Begraben der Toten erhalten hätten.

Obwohl dieser Prozeß im Gegensatz zu dem 10 Jahre später geführten Prozeß gegen sieben Angeklagte geführt wurde, fand die Hauptverhandlung an nur zwei Tagen (4. und 5. Oktober 1946), und zwar beim Landesgericht Wien, statt. Die zügige Durchführung der Hauptverhandlung war sicher auch von dem Umstand begünstigt, daß das Gericht es als nicht notwendig erachtet hatte, in Deutsch-Schützen einen Lokalaugenschein abzuhalten. Die äußeren Bedingungen beim "Südostwallbau" waren nur insoweit Gegenstand der Befragungen während der Hauptverhandlung, als sie für die Feststellung der Schuld des jeweiligen Angeklagten - analog zu den Anklagepunkten, auf welche das Hauptaugenmerk gelegt wurde - von Relevanz waren. Die ehemaligen HJ-Führer wurden auch zu ihrer persönlichen Einstellung den ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern und ihrer Ermordung gegenüber befragt, das heißt, daß es dem Gericht ein Anliegen war, herauszufinden, ob den jugendlichen Angeklagten das Unrechtmäßige ihrer Tat bewußt gewesen war. Zu diesem Zwecke wurde ein psychiatrischer Sachverständiger, welcher die Angeklagten untersucht hatte, zur Hauptverhandlung geladen. Ein weiterer wichtiger Punkt, den es für das Gericht in der Hauptverhandlung zu klären galt, war, ab welchem Zeitpunkt die damaligen HJ-Führer über die bevorstehende Ermordung Bescheid gewußt hatten und ob es ihnen möglich gewesen wäre, keine Beihilfe zu dem Verbrechen zu leisten. Das Hauptverteidigungsargument der Jugendlichen war nämlich, daß Weber ihnen im Falle der Nichtbefolgung mit dem Erschießen gedroht hatte. Den in dieser Hauptverhandlung vernommenen Zeugen, welche beinahe zur Gänze aus der unmittelbaren Umgebung von Deutsch-Schützen stammten, wurden, neben Fragen zur eigentlichen Tat, sofern sie darüber Bescheid wissen konnten, in erster Linie Fragen zum Verhalten der Jugendlichen den Juden gegenüber gestellt. Insbesondere am zweiten Verhandlungstag rückte die Frage, ob eine Desertation der Jugendlichen - diese hatten in ihrer Vernehmung als Verantwortung immer wieder Befehlsnotstand angegeben - möglich gewesen wäre, verstärkt in den Vordergrund. Da die Juden in einem Wald außerhalb des Dorfes ermordet worden waren, handelte es sich dabei um keine Tatzeugen. Insbesondere der am ersten Verhandlungstag vernommene Pfarrer von Deutsch-Schützen bestätigte - ebenso wie der ehemalige HJ-Führer, gegen welchen mit Beschluß vom 16. April 1946 das Verfahren bereits eingestellt worden war - die Verantwortung der Jugendlichen, daß ihnen eine Flucht nicht möglich gewesen wäre. Auch der am zweiten Verhandlungstag zu Rate gezogene gerichtsärztliche Sachverständige gab an, daß die Angeklagten zur Tatzeit unter dem Befehl des Bannführers Weber und unter militärischem Druck gestanden seien. Obwohl der Pfarrer von Deutsch-Schützen das Gericht wiederholt, so zuletzt in der Hauptverhandlung des gegenständlichen Prozesses, über den an ihn gerichteten Brief eines überlebenden ungarischen Juden in Kenntnis gesetzt hatte, wurde derselbe nicht zur Hauptverhandlung geladen. Der Staatsanwalt hatte zwar in der Anklageschrift (2. Juli 1946) beantragt, dem in Ungarn lebenden Zeugen über das Bundesministerium für Justiz die Zeugenladung zuzustellen; dazu muß jedoch festgehalten werden, daß diese Ladung dem Justizministerium erst mit Schreiben vom 28. August 1946 übermittelt worden war, weshalb das Ministerium am 3. September 1946 bemerkte, "dass es bei den gegenwärtigen Schwierigkeiten im zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr als sehr zweifelhaft bezeichnet werden muss, ob eine Zeugenladung für den 4. Oktober 1946 in Ungarn noch rechtzeitig zugestellt werden kann [...]". Am 23. September 1946 verliert sich im Gerichtsakt die Spur der Ermittlung des überlebenden ungarischen Juden mit dem Ersuchen des Staatsanwaltes an den Vorsitzenden des Volksgerichtes, über die Staatspolizei Kontakt zu den ungarischen Konsulatsbehörden aufzunehmen und zu versuchen, "eine Vernehmung des Zeugen durch die ungarischen Behörden zu erreichen". Es finden sich keine Anzeichen dafür, daß in der Folge weitere Versuche unternommen wurden, die Aussage dieses Zeugen zu erhalten. Angesichts der Tatsache, daß im Jahre 1946 der Hauptbeschuldigte noch flüchtig war, die Zeugenvernehmung daher auch nach der Hauptverhandlung des ersten Prozesses von großer Bedeutung gewesen wäre, ist die Vorgangsweise des Gerichtes nur mit der generellen Entwicklung der Volksgerichtsbarkeit, deren Abschaffung bereits ab dem Jahre 1948 erwogen wurde, erklärbar. Die Aussage eines anderen Zeugen, welcher angab, gemeinsam mit einigen anderen Kollegen vom Zollgrenzschutz auf dem Rückweg nach St. Kathrein beim sogenannten Gemeindeholzschlag einen noch lebenden, verwundeten Menschen - mit größter Wahrscheinlichkeit ein überlebender ungarischer Jude - gefunden zu haben, der zu ihnen auf ungarisch gesagt habe, von Kindern angeschossen worden zu sein, wurde vom Gericht nicht weiter verfolgt. Somit stand an beiden Verhandlungstagen die Entlastung der jugendlichen Angeklagten im Mittelpunkt; der einzigen Zeugenaussage, mit welcher die ehemaligen HJ-Führer belastet wurden, maß das Gericht keine Bedeutung bei. Alles zielte auf die Entschuldigung und Erklärung der Tat der Jugendlichen durch ihr Alter und Befehlsnotstand ab.

Im Urteil wurden drei Angeklagte des Verbrechens des bestellten Mordes als Mitschuldige und zwei des versuchten Verbrechens des bestellten Mordes als Mitschuldige für schuldig befunden. Alle fünf waren schuldig bezüglich § 1 KVG. Hinsichtlich des Anklagepunktes gegen einen ehemaligen HJ-Führer, nämlich vollbrachter gemeiner Mord in einem Fall und Mitschuld am gemeinen Mord, wurde aufgrund der unsicheren Beweisergebnisse ein Freispruch gemäß § 259/3 StPO gefällt. Eine Verurteilung nach § 1 KVG hätte in diesem Fall den Nachweis erfordert, daß der Beschuldigte den Mord tatsächlich begangen hat, welcher dem Gericht aber zu erbringen nicht gelungen war. Bezüglich der drei Jugendlichen, die angeklagt gewesen waren, sich am 30. März 1945 in der Nähe von Jabing schon vor der Ermordung des späteren Opfers zu der Begrabung der Leiche bereit erklärt zu haben (gemeiner Mord als Mitschuldige), sprach das Volksgericht seine Unzuständigkeit aus und verwies die Strafsache hinsichtlich dieses Tatbestandes in das ordentliche Verfahren.

Das Strafausmaß umfaßte 15 Monate bis drei Jahre (in allen Fällen mit Vermögensverfall) . Dabei erachtete das Gericht in der Urteilsbegründung die Rechtfertigung der Angeklagten, daß sie unter strengen militärischen Gesetzen gestanden wären und Weber ihnen im Falle einer Flucht mit der Erschießung gedroht hätte, für die Schuldfrage als irrelevant, da es einen unwiderstehlichen Zwang im Sinne des Gesetzes als nicht gegeben annehmen konnte. Aus dem Verhalten der Angeklagten, die "willfährig und ohne jeden Protest alle noch so grauenhaften Befehle" ausgeführt hätten, gehe mit aller Deutlichkeit hervor, daß sie gar nicht den Willen gehabt hätten, sich den ihnen gestellten Aufgaben zu entziehen. Die schwierige Situation, unter der sich die Jugendlichen damals befunden hätten, wurde aber neben ihrer Unbescholtenheit, ihrem guten Leumund und ihrem jugendlichen Alter bei der Strafbemessung berücksichtigt. Die im Zuge des Verfahrens von den jeweiligen Heimatgemeinden der Angeklagten eingeholten Leumundschreiben, in denen nach dem Leumund, den persönlichen Verhältnissen sowie den Vorstrafen gefragt worden war und die vom jeweiligen Bürgermeister beantwortet worden waren, enthielt durchwegs keine nachteiligen Angaben bezüglich der beschuldigten Jugendlichen. Nur in zwei Fällen war einem Leumundschreiben ein Protokoll beigefügt, in welchem ein ehemaliger HJ-Führer von einem Zeugen als "sehr sehr streng" beschrieben bzw. beschuldigt wurde, ihn [= den Zeugen] geschlagen zu haben. Neben den Leumundschreiben hatte das Gericht des weiteren Schülerbeschreibungen der einzelnen Jugendlichen eingeholt, in welchen sie als "[...] gut talentierter, strebsamer und fleißiger Schüler, dem auch hinsichtlich seines Charakters nichts nachtragen werden kann" und "[...] ruhig, bescheiden, gut entwickelt, gesund; kameradschaftlich" beschrieben wurden. Bezüglich ihres jugendlichen Alters wurde in der Urteilsbegründung aber auch festgehalten, daß
"[...] auch nicht gesagt werden [kann], dass die Angeklagten als Jugendliche aus besonderen Gründen noch nicht reif genug waren, das Unrechtmässige der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, denn die Angeklagten waren zur Zeit der Tat ungefähr 17 Jahre alt, sie wussten dass die Erschiessungen der Juden Mord an unschuldigen Menschen ist, was ihnen umso mehr klar sein musste, als sie alle über eine die Volksschule hinausgehende Bildung verfügten. Es hatten ja auch der Bannführer Weber und seine Helfershelfer nicht einmal versucht, den Anschein irgend einer standgerichtlichen Erschiessung zu erwecken, so dass sich die Angeklagten von der völligen Recht- und Gesetzwidrigkeit der Massnahmen im Klaren sein mussten."


Zweiter Prozeß

Gegen den Hauptbeschuldigten, den ehemaligen HJ-Bannführer Alfred Weber, konnte erst 10 Jahre später, und zwar am 24. Mai 1956, Anklage erhoben werden. Alfred Weber war bereits vor der Annexion Österreichs im Jahre 1938 für die HJ tätig gewesen und Ende September/Anfang Oktober 1938 zum hauptamtlichen Grenzstammführer der HJ ernannt worden. Im September 1939 wurde er aufgrund seiner freiwilligen Meldung vom Frühjahr 1939 zur SS eingezogen. Nach Kriegseinsatz in Holland, Belgien, Frankreich und Jugoslawien wurde er im Oktober 1941 in Rußland verwundet und im Mai 1943 als Schwerverwundeter endgültig aus der Wehrmacht entlassen und als Hitlerjugendführer hauptamtlich verwendet. Er hatte die Funktion eines Bannführers mit dem Dienstgrad eines Stammführers und wurde als solcher Ende September/Anfang Oktober 1944 zum Bau des "Südostwalls" nach Deutsch-Schützen kommandiert.

Die Anklagepunkte waren folgende: Anstiftung zum Verbrechen des teils vollbrachten, teils versuchten Mordes: Er habe einem HJ-Führer befohlen, unbekannte Angehörige der SS und der Feldgendarmerie zum Tatort zu führen und dabei Wein mitzunehmen; des weiteren habe er die Eskortierung von 60 ungarischen Juden in die Nähe des Tatortes und die Erschießung derselben durch Angehörige der SS und Feldgendarmerie befohlen. Die Ermordung von weiteren 150 jüdischen Zwangsarbeitern sei nur durch die "Dazwischenkunft eines fremden Hindernisses" unterblieben. Ein weiterer Vorwurf der Anklage lautete Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 1 Absatz 2 KVG). In der Anklagebegründung wurde auf den ersten wegen des Massakers von Deutsch-Schützen geführten Prozeß Bezug genommen, in dem " [...] ausdrücklich festgestellt, und als erwiesen angenommen [worden ist], dass die Befehle zur Erschiessung der 60 Juden und der weiteren zu erschiessenden 150 Juden von Weber ausgegangen sind."

Präjuduzierend für diesen Prozeß war die erste Verhandlung vom Oktober 1946. Der erste Tag der Hauptverhandlung (18. Juni 1956) wurde am Landesgericht Wien abgehalten, die folgenden drei Tage (19.-21. Juni 1956) am Bezirksgericht Oberwart und der letzte Tag (22. Juni 1956) wiederum am Landesgericht Wien. Wie im vorangegangenen Prozeß war auch hier der "Südostwallbau" nur insoweit Thema der Fragestellung, als es um die Kompetenzen und Verantwortung des Angeklagten ging. Im Mittelpunkt stand die Klärung der Frage, ob Weber den Befehl zur Ermordung der ungarischen Juden erteilt hatte, wenn ja, zu welchem Zeitpunkt er die HJ-Führer darüber informiert und wer schließlich die Einstellung der Erschießungen befohlen hatte. Neben dem Tathergang wurden die ehemaligen HJ-Führer, die zu diesem Zeitpunkt zum größten Teil wieder in ihrer Heimatgemeinde wohnten und arbeiteten, vor allem hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Angeklagten befragt, das heißt, ob dieser sie im Falle der Befehlsverweigerung mit dem Standgericht bedroht hätte.

Der Angeklagte, welcher am ersten Verhandlungstag (18. Juni 1956) einvernommen wurde, bestritt, wie nicht anders zu erwarten und wie schon in vorangegangenen Vernehmungen , den Erschießungsbefehl gegeben und die HJ-Angehörigen im Falle der Flucht mit dem Erschießen bedroht zu haben. Der Befehl zur Begrabung der toten Juden hätte für ihn schließlich eine Pietätsangelegenheit dargestellt. Zu den seinerzeitigen, belastenden Angaben der ehemaligen HJ-Führer meinte Weber, daß er sich nur vorstellen könne, "dass sie damals der Meinung waren, dass ich bereits tot bin, oder weil ich bei der damaligen Verhandlung nicht zugegen war dachten sie, dass sie durch eine solche Aussage vielleicht besser herauskommen." Zur gleichen Zeit entlastete er aber die ehemals angeklagten Jugendlichen, indem er angab, von Aldrian seinerzeit erfahren zu haben, daß diese nicht an den Morden beteiligt gewesen wären. Von den als Zeugen geladenen, im ersten Prozeß angeklagten ehemaligen HJ-Führern hielten jedoch in der Folge nur zwei ihre Beschuldigung gegen Weber auch nach Befragung durch den Vorsitzenden bzw. durch den Staatsanwalt, ob sie seinerzeit nicht versucht hätten, dem jetzigen Angeklagten die Schuld anzulasten, aufrecht.

Von den am zweiten Tag der Hauptverhandlung (19. Juni 1956) vernommenen weiteren fünf ehemaligen HJ-Angehörigen konnten sich drei auch nach wiederholter Befragung durch den Staatsanwalt gar nicht mehr bzw. nur sehr dunkel an die Ereignisse in der letzten Märzwoche 1945 in Deutsch-Schützen erinnern. Ihre Aussagen reichten von
"Es sind heute 11 Jahre vergangen, ich kann mich nicht mehr so erinnern [...] Ich war damals Angeklagter, ich habe meine Aussagen so gemacht als ich glaubte, dass es günstig für mich ist. [...] Ich kann heute nicht sagen, dass ich damals 100% ig die Wahrheit gesagt habe, wir
waren damals 17 Jahre alt."
bis hin zu "Aber woher soll ich gehört haben, dass der Angeklagte damals einen telephonischen Auftrag bekommen hat? Vielleicht sagte ich dies zu meiner Entlastung." Einer der ehemaligen HJ-Führer konnte sich auch nach Befragung durch den Staatsanwalt nicht mehr daran erinnern, ob er seinerzeit als Beschuldigter die Wahrheit gesagt hatte.
Am gleichen Tag erfolgte die Vernehmung des ehemaligen Kreisleiters von Oberwart, Eduard Nicka, den Weber als Zeugen beantragt hatte, um seine Kompetenzen und Aufgaben als Unterabschnittsleiter beim "Südostwallbau" zu klären. Nicka konnte sich nicht daran erinnern, den Evakuierungsbefehl gegeben zu haben, ebenso kaum an die Ereignisse des 29. März 1945, sehr wohl aber daran, daß Weber nichts mit der Bewachung und der persönlichen Betreuung der jüdischen Zwangsarbeiter zu tun gehabt hätte. Auch eine Meldung über die Einstellung der Erschießungen sei ihm seiner Erinnerung nach nicht zugekommen. "Auf alle Fälle wenn ich davon etwas erfahren habe, so habe ich sofort veranlasst, dass alles eingestellt wird." Er beschrieb Weber als einen Menschen, der "seinen Dienst restlos erfüllt hat [...]".
Fortgesetzt wurde die Hauptverhandlung am 20. Juni 1956 mit der Vernehmung eines Rechtsanwaltes , welcher von September 1940 bis Kriegsende dem Zollgrenzschutz, und zwar dem Zollkommissariat in Eberau, zugeteilt gewesen war. In der Anzeige des Bezirksgendarmeriekommissariats Oberwart vom 20. Oktober 1945 war er als Zeuge angeführt gewesen und hatte dort den Kreisleiter Nicka belastet, welcher den Erschießungsbefehl gegeben haben soll. Im Jahre 1956 konnte er sich in der Hauptverhandlung erst nach Vorhalt dieser Aussage dunkel daran erinnern, von den Erschießungen in Deutsch-Schützen gehört zu haben. Nach Befragung durch die Verteidigung hielt er aber an seiner damaligen Aussage fest. Der seinerzeitige Bürgermeister von Deutsch-Schützen wurde vom Verteidiger befragt, ob er im Ort gehört habe, wer für die Erschießungen verantwortlich sei: "Das weiss ich heute nicht mehr, man hat damals allerhand gesprochen, aber das war alles nicht stichhältig." Nach ihm wurde der Pfarrer von Deutsch-Schützen, derselbe, welcher im ersten Prozeß die ehemaligen HJ-Führer entlastet hatte, vernommen. Dieser gab zu Protokoll, daß damals das ganze Dorf über das Massaker gesprochen habe. Über Befragen durch den Staatsanwalt gab er an, nicht gehört zu haben, daß der Angeklagte den Jugendlichen mit dem Erschießen gedroht habe, eine Aussage, welche in der Folge auch von weiteren Zeugen bestätigt wurde. Um 11 Uhr begab sich der Gerichtshof zur Durchführung des Lokalaugenscheines, welcher auf Antrag der Verteidigung und mit Unterstützung der Staatsanwaltschaft beschlossen worden war, nach Deutsch-Schützen (neben dem Gerichtshof, dem Schriftführer, dem Staatsanwalt und dem Angeklagten samt Verteidiger war der Hauptangeklagte des ersten Prozesses als Zeuge anwesend). Im Anschluß daran machte in der beim Bezirksgericht Oberwart fortgesetzten Hauptverhandlung der ehemalige Ortsbauernführer von Deutsch-Schützen den wohl größten Rückzieher in bezug auf eine frühere Zeugenaussage. Anfang Juni 1956 hatte er der Gendarmerie noch zu Protokoll gegeben, daß Weber am 29. März 1945 zwischen sieben und acht Uhr von ihm die Abgabe des Erschießungsbefehls gefordert hätte. Zur gleichen Zeit hätte er einen Anrufe des Kreisleiters erhalten, welcher den Abmarsch der Juden befohlen hätte, wobei er diesen über das Ansinnen Webers informiert hätte. In der Hauptverhandlung ließ ihn aber sein Gedächtnis im Stich: "Der Angeklagte ist wohl einmal zu mir gekommen und hat so herumgeredet dass Juden erschossen werden sollen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern." Zu seiner nicht einmal drei Wochen alten, früheren Aussage meinte er:
"Als ich am 1.6.1956 meine Angaben vor der Gendarmerie machte war ich gerade vom Berg nach Hause gekommen und hatte den ganzen Tag über schon Wein getrunken, ich war daher etwas gut aufgelegt und unter solchen Umständen spricht man etwas mehr als eigentlich wahr ist. Aber jedenfalls kann ich 100%ig nicht behaupten, dass der Angeklagte wegen der
Erschiessungen bei mir gewesen ist."

Das Protokoll seiner Vernehmung sei ihm zwar vor Setzung seiner Unterschrift vorgelesen worden, "aber ich muss gestehen, dass ich alle Tage abends betrunken bin und die Gendarmeriebeamten sind immer abends zu mir gekommen." Der Gendarmeriebeamte, welcher die Vernehmung mit dem Zeugen durchgeführt hatte, wurde am vierten Tag der Hauptverhandlung (21. Juni 1956) nach Antrag des Staatsanwaltes jedoch ebenfalls vernommen und sagte aus, daß jener eine der stichhältigsten Aussagen unter den Zeugen aus Deutsch-Schützen gemacht hätte. Abgeschlossen wurde das Beweisverfahren mit der Vernehmung von sechs Zeugen, die aufgrund diverser Beweisanträge des Angeklagten zur Hauptverhandlung geladen worden waren; zwei der Zeugen beschrieben ihn erwartungsgemäß als "sehr menschlich zu seinen Leuten" und "immer sehr human", die anderen konnten keine weiterführenden Angaben machen.

Am 5. Verhandlungstag (22. Juni 1956) wurde vom Vorsitzenden nach Beratung der Geschworenen das Urteil verkündet. Der ehemalige Unterabschnittsleiter Weber wurde in den drei Hauptfragen - Order an einen HJ-Führer, unbekannte Angehörige der SS und der Feldgendarmerie zum Tatort zu führen und dabei Wein mitzunehmen; Befehl zur Eskortierung von 60 ungarischen Juden in die Nähe des Tatortes und zur Erschießung derselben durch Angehörige der SS und Feldgendarmerie; Verbrechen gegen die Menschlichkeit - von den acht Geschworenen einstimmig gemäß § 259/3 StPO freigesprochen. Als einzige Begründung für ihren Urteilsspruch führten die Geschworenen an, daß der Beweis nicht erbracht werden konnte. In den beiden Eventualfragen - Beihilfe zum bestellten Mord, der von unbekannter Seite befohlen worden war [Weber war in den Hauptfragen vom Mordvorwurf freigesprochen worden] sowie Beihilfe zum versuchten Verbrechen des bestellten Mordes - wurde Weber mit nur einer Gegenstimme ebenfalls gemäß § 259/3 StPO freigesprochen. In diesen Punkten reichte die Beweisführung nach Überzeugung der Mehrheit der Geschworenen zu einem Schuldspruch nicht aus. Die Begründung der Geschworenen fiel, vor allem, wenn man sie mit der Urteilsbegründung des ersten Prozesses vergleicht, mehr als dürftig aus. Mit Beschluß des Schwurgerichtshofes beim Landesgericht Wien vom 22. Juni 1956 wurde jedoch von einem Entschädigungsanspruch Webers Abstand genommen, da die Verdachtsgründe nicht zur Gänze entkräftet hatten werden können. In der Begründung hieß es, daß "zumindest der Umstand, dass der Angeklagte als HJ-Bannführer es zuliess, dass ihm unterstellte HJ-Angehörige zu einem von SS-Leuten und Feldgendarmerieangehörigen durchgeführten Mord Beihilfe leisteten, als grobe Unsittlichkeit anzusehen ist."


Der Verlauf dieser beiden Prozesse verdeutlicht den Umgang mit bzw. die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Österreich: War in den ersten Jahren nach Kriegsende in der Volksgerichtsbarkeit an sich noch ein wirkliches Bemühen erkennbar, das NS-Regime und seine Verbrechen aufzuarbeiten, ist spätestens ab 1947 die Tendenz der Verharmlosung, des "Vergessens" erkennbar. Bereits im Jahre 1948 wurde die Sinnhaftigkeit der Volksgerichtsbarkeit vom damaligen Justizminister Gerö in Frage gestellt; im selben Jahr wurde die Entnazifizierung mit der Minderbelastetenamnestie de facto abgeschlossen. Mit Erlangen des Staatsvertrages im Jahre 1955 war schließlich ein wichtiger Grund für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, nämlich der Weltöffentlichkeit und damit auch den alliierten Besatzungsmächten zu demonstrieren, daß man die eigenen Probleme sehr wohl selbst lösen könne, weggefallen. Zentraler Angelpunkt des Argumentationskonstrukts der Zweiten Republik war die in die Unabhängigkeitserklärung Österreichs vom 27. April 1945 aufgenommene völkerrechtliche Okkupationstheorie, durch welche Österreich als erstes Opfer Hitlerdeutschlands dargestellt und somit Schuld und Mitverantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen externalisiert wurden, ohne den österreichischen Nationalsozialismus zu berücksichtigen. Die selektive Interpretation der "Moskauer Erklärung" bot eine weitere Hilfestellung für die Durchsetzung der Opferthese.

Die Gerichtsurteile geben diese Entwicklungstendenz nur allzu gut wieder: Wurden unmittelbar nach Kriegsende die Mittäter, die zum Zeitpunkt der Tat erst 17 Jahre alt gewesen waren, verurteilt, wurde der Haupttäter 10 Jahre später freigesprochen. Die Verdrängung ging in diesen 10 Jahren dabei so weit, daß die verurteilten ehemaligen HJ-Führer ihrem ehemaligen Bannführer durch ihre Aussagen vor Gericht dazu verhalfen, freigesprochen zu werden. Die Angeklagten sahen in erster Linie sich selbst als Opfer des Nationalsozialismus, welche nur unter Druck und auf Befehl gehandelt hatten. In den Zeugenaussagen wird ebenfalls Verständnis für die damalige Lage der Beschuldigten gezeigt; die wirklichen Opfer, nämlich die ermordeten ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter werden kaum erwähnt.



von: Eva Holpfer

erschienen in:
Holocaust Hefte Nr. 12/1999, hrsg. von der Ungarischen Auschwitz Stiftung, Holocaust Dokumentations-zentrum, Budapest, S. 43-70