Claudia Kuretsidis-Haider: Verbrechen an ungarisch-jüdischen
Zwangsarbeitern vor Gericht. Die Engerau-Prozesse vor dem Hintergrund der
justiziellen "Vergangenheitsbewältigung" in Österreich
(1945–1955).
Dissertation zum größten Prozess-Komplex
der Geschichte der österreichischen Volksgerichte
Mit einer Anzeige des 40-jährigen Fleischhauers und Selchers Rudolf Kronberger
aus dem 3. Wiener Gemeindebezirk begannen im Mai 1945 die umfangreichsten
und am längsten andauernden gerichtlichen Ermittlungen wegen NS-Verbrechen
in der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte Österreichs. Sie zogen zwischen
1945 und 1954 zahlreiche Prozesse in Wien nach sich, sechs davon erhielten
die Bezeichnung "Engerau-Prozesse".
Die Tatsache, dass österreichische Gerichte Verbrechen an ungarischen
Juden, die beim "Südostwall"-Bau auf dem Gebiet der ehemaligen
Ostmark Zwangsarbeit leisten mussten, nach 1945 nach österreichischen
Gesetzen ahndeten, war über Jahre hinweg ein Forschungsdesiderat und
ist international nach wie vor weitgehend unbekannt. Neben den Engerau-Prozessen
fanden in Wien, Graz und Linz eine Reihe weiterer "Südostwallverfahren"
statt, wie beispielsweise wegen eines Massakers an ungarischen Juden im burgenländischen
Rechnitz, wegen der Ermordung von ungarischen Juden in Deutsch-Schützen,
sowie Prozesse wegen Verbrechen beim "Südostwall"-Bau im burgen-ländischen
Strem. Neben Verbrechen an der österreichischen Zivilbevölkerung
zu Kriegsende und Verbrechen bei der Räumung von Justizanstalten zählen
die Morde beim "Südostwall"-Bau zu jenen von C. F. Rüter
so genannten "Endphaseverbrechen", die in Österreich häufig
Gegenstand von Verfahren waren, welche die seitens der Provisorischen österreichischen
Regierung bereits im Mai 1945 installierten Volksgerichte auf der Grundlage
eigens dafür verabschie-deter Gesetze durchführten.
Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Wider-standes (DÖW)
begann 1993 den Forschungsschwerpunkt "Nachkriegsjustiz" mit einem
beim Fonds zur Erforschung wissenschaftlicher Forschungen (FWF) eingereichten
Projekt "Die Verfahren vor dem Volksgericht Wien (1945 – 1955)
als Geschichtsquelle", deren Sachbearbeiterin die Verfasserin gemeinsam
mit Winfried R. Garscha war.
Diesem Forschungsvorhaben folgte 1996 ein weiteres Projekt "Die Nachkriegsjustiz
als nicht-bürokratische Form der Entnazifizierung: Österreichische
Justizakten im europäischen Vergleich. Überlegungen zum strafprozessualen
Entstehungszusammenhang und zu den Verwertungsmöglichkeiten für
die historische Forschung", an dessen Ende die Gründung der Zentralen
Österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz stand, deren wissenschaftliche
Leiterin die Verfasserin gemeinsam mit Winfried R. Garscha ist.
Auf der Basis der - nunmehr seit zehn Jahren laufenden Forschungstätigkeit
- ist es nunmehr möglich, eine umfangreiche Arbeit über die Tätigkeit
des österreichischen Volksgerichtes anhand eines Fallbeispiels - nämlich
eines Prozesskomplexes betreffend die Ahndung von Verbrechen an ungarisch-jüdischen
Zwangsarbeitern - vorzulegen. Herangezogen wurden die "sechs Engerau-Prozesse",
die das Volksgericht Wien zwischen dem August 1945 und dem Juli 1954 wegen
der von SA-Männern und "Politischen Leitern" an ungarischen
Juden verübten Verbrechen im Zuge des "Südostwall"-Baues
im Grenzort Engerau / Petrzalka (bei Pressburg / Bratislava) und dem zu Kriegsende
erfolgten Evakuierungsmarsches nach Bad Deutsch-Altenburg sowie des anschließenden
Schiffstransportes nach Mauthausen, durchführte, sowie einige damit in
unmittelbarem Zusammenhang stehende Verfahren.
Ziel dieser rechts- und zeitgeschichtlichen Untersuchung ist eine Analyse
der praktischen Tätigkeit des Volksgerichts Wien auf der Grundlage der
über 8.000 Seiten umfassenden Gerichtsakten in der Strafsache Engerau,
die sich über fast den gesamten Zeitraum des Bestehens der österreichischen
Volkgerichtsbarkeit erstreckte. Die sechs Engerau-Prozesse wurden gegen 21
Personen geführt; neun von ihnen wurden zum Tode verurteilt: das waren
21 % der Gesamtzahl an Höchsturteilen der österreichischen Volksgerichte.
Die nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere der Holocaust, waren
in den vergangenen Jahrzehnten Gegenstand zahlloser Verarbeitungsversuche
durch Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Eine Analyse
eines bestimmten Verfahrenskomplexes, welche Gerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen
als Form der justiziellen "Vergangenheitsbewältigung" begreift,
muss diese in den jeweiligen gesellschaftlichen Diskurs zum Zeitpunkt der
Prozesse, aber auch in die seither erfolgten Verarbeitungsversuche einbetten.
So sind beispielsweise die beiden großen Mauthausen-Prozesse gegen Vinzenz
Gogl in Linz und Wien (1972 und 1975) nicht nur Bestandteil der österreichischen
Justizgeschichte, sondern auch der Rezeptionsgeschichte des KZ Mauthausen
in der österreichischen Gesellschaft der Zweiten Republik. Diese Meta-Ebene
- die Rezeption der Verbrechen durch Politik, Gesellschaft, Wissenschaft,
Kunst und Literatur - existiert für den hier untersuchten Verbrechenskomplex
nicht. Die erste geschichtswissenschaftliche Arbeit von Szabolcs Szita, die
auf die Verbrechen in Engerau einging, erschien 1983 in ungarischer Sprache.
Der zehn Jahre später vom selben Autor in der Zeitschrift "Unsere
Heimat" publizierte Aufsatz blieb bis heute die einzige Engerau gewidmete
Arbeit in deutscher Sprache. Die Bezugnahme auf den gesellschaftlichen Diskurs
musste sich daher auf die Referierung der Zeitungsberichterstattung beschränken.
Angemerkt werden soll jedoch, dass sich die Autorin selbst - im Rahmen ihrer
Tätigkeit im "Verein zur Erforschung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen
und ihrer Aufarbeitung" - seit mehreren Jahren bemüht, Wissen über
die Verbrechen in Engerau im Rahmen der Erwachsenenbildung (Vorträge
in Wien und Niederösterreich) zu vermitteln und Formen des Gedenkens
zu initiieren.
Die wichtigsten Abschnitte der Arbeit (Aus der Einleitung)
Die österreichische Volksgerichtsbarkeit war kein von den
Entwicklungen im Nachkriegseuropa abgekoppeltes Vorgehen einer Sondergerichtsbarkeit.
Im Kapitel "Justizgeschichtliche Einordnung" wird daher das Forschungsthema
in einen internationalen Zusammenhang gestellt. Die Engerau-Prozesse fanden
vor dem Hintergrund der Ahndung von NS-Verbrechen in zahlreichen europäischen
Ländern statt. Diesem justiziellen Umgang mit den Verbrechen und im Besonderen
der Anwendung von speziellen Gesetzen liegt eine Vorgeschichte zugrunde, die
bis vor den 1. Weltkrieg zurückreicht, weshalb sich ein Rückblick
auf die Entwicklung der Ahndung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen
als notwendig erwies. Nur vor diesem Hintergrund ist die Durchführung
von Prozessen wegen nationalsozialistischer Verbrechen in Österreich
und anderen europäischen Ländern verständlich.
Um eine Einordnung der österreichischen Nachkriegsgerichtsbarkeit, insbesondere
der ersten zehn Jahre, in Entwicklungen in anderen europäischen Ländern
zu ermöglichen, wurde ein Ausblick sowohl auf beide deutsche Staaten
als auch auf einige andere - vom nationalsozialistischen Deutschland besetzte
- Länder vorgenommen, um zu zeigen, dass der österreichische Weg
kein Einzelfall war, aber auch, um auf regionale Unterschiede hinzuweisen.
Zur gleichen Zeit, als österreichische Volksgerichte österreichisches
Recht anwandten existierten parallel dazu auch von den vier Besatzungsmächten
installierte Militärgerichte, die zum Teil ebenfalls NS-Verbrechen ahndeten,
auf die kurz eingegangen wird.
Zwar fand das Gros der in Österreich durchgeführten Prozesse zwischen
1945 und 1955 statt, aber auch nach dem Abzug der Besatzungsmächte wurden
noch Verfahren gegen mutmaßliche Täter geführt. Um den Stellenwert
der Volksgerichtsbarkeit abschätzen zu können, wird schließlich
ein Überblick auf diese zweite Phase des justiziellen Umgangs mit den
NS-Verbrechen gegeben.
Die sechs Engerau-Prozesse wurden von so genannten Volksgerichten durchgeführt,
welche die Provisorische Regierung bereits in den ersten Wochen des vom NS-Regime
befreiten Österreich installierte. Deren Aufgaben, Charakteristika und
gesetzlichen Grundlagen sind Gegenstand eines weiteren Unterkapitels der "Justizgeschichtlichen
Einordnung".
Der Frage, inwieweit die Ahndung von nationalsozialistischen
Gewaltverbrechen durch die eigene Justiz sozusagen durch einen inneren "revolutionären
Selbstreinigungsprozess" identitätsstiftend sein könnte, und
welche Voraussetzungen dafür geschaffen und umgesetzt werden müssten,
geht das Kapitel "Die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen und der Umgang
mit der NS-Zeit: Verdrängung oder Identitätsbildung?" nach.
Die Akten des Volksgerichtes Wien und somit auch der sechs Engerau-Prozesse
befinden sich im Aktenlager des Landesgerichts für Strafsachen in Wien.
Sie müssen laut Verfügung des Gerichts "ständig"
aufbewahrt werden. Verfügungsberechtigt ist entsprechend der Geschäftsordnung
der Gerichte I. und II. Instanz bis einschließlich fünfzig Jahre
nach Abschluss des Gerichtsverfahrens das LG Wien. Die Einsichtnahme in Gerichtsakten
ist in der Strafprozessordnung geregelt und für die wissenschaftliche
Forschung möglich.
Aus Datenschutzgründen wurden nur die Namen jener Personen genannt, über
die im Rahmen der Engerau-Prozesse auch in den Zeitungen zu lesen stand bzw.
darüber hinaus gehend solche, die als "Personen der Zeitgeschichte"
zu bezeichnen sind. Die Namen der Opfer wurden ebenfalls genannt, ebenso wie
die Namen jener Personen, nach denen die polizeiliche Fahndung erfolglos blieb.
Im Mittelpunkt des Kapitels "Quellen und Methodik"
steht die Diskussion des Gerichtsaktes - und im speziellen der Engerau-Prozessakten
- als Geschichtsquelle. Um ihren Quellenwert einschätzen zu können,
müssen Kenntnisse über den Gang eines Schöffengerichtsverfahrens
vorhanden sein. Die Vg-Prozesse unterlagen den Regeln der österreichischen
Strafprozessordnung, sodass derartige Verfahren vom Ablauf her kaum Unterschiede
zu einem "normalen" Gerichtsverfahren aufwiesen. Allerdings waren
die Rechtsmittel ausgesetzt.
Ergänzend zu den Volksgerichtsakten wurde auch in anderen (Justiz)quellen
recherchiert, nämlich in den staatsanwaltschaftlichen Tagebüchern
der Engerau-Verfahren, in Justizverwaltungsakten, Gauakten und Akten des Reichsjustizministeriums
im Österreichischen Staatsarchiv / Archiv der Republik, in Akten der
Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von nationalsozialistischen
Verbrechen in Ludwigsburg und im Akt der "Slowakischen Staatskommission
zur Feststellung der deutschen Verbrechen in der Slowakei". Als weitere
wertvolle, die Originalakten ergänzende, Geschichtsquelle erwies sich
die Berichterstattung in den Zeitungen, wobei ihre Verwendung eine quellenkritische
Herangehensweise erfordert.
Die Zwangsarbeit der ungarischen Juden beim "Südostwall"-Bau
war Teil der Vernichtungsstrategie des NS-Regimes. Die Vorgeschichte samt
den Gründen ihres Arbeitseinsatzes im Osten Österreichs wird im
Kapitel "Historischer Hintergrund" angerissen.
Kernstück, weil zentrales Thema der vorgelegten Arbeit,
ist die Geschichte der Engerau-Prozesse zwischen 1945 und 1954. Da der Quellenwert
eines Gerichtsaktes nicht nur in der Anklageschrift, dem Hauptverhandlungsprotokoll
und dem Urteil begründet ist, wird für alle Prozesse dem Gang des
Verfahrens gefolgt. Ziel dieser Vorgangsweise war es, die Ermittlungstätigkeit
der Sicherheitsbehörden und der Staatsanwaltschaft zu dokumentieren,
Änderungen im Erkenntnisinteresse des Gerichts im Laufe des Vorverfahrens
aufzuzeigen, Aussagen von ZeugInnen jenen der Beschuldigten gegenüber
zu stellen, zu vergleichen, welche im Vorverfahren hervor gekommenen vermutlichen
Tatbestände für anklagreif erachtet wurden, Anklageschrift und Urteilsbegründung
einem Vergleich zu unterziehen, die Hauptverhandlungsprotokolle hinsichtlich
strafprozessrechtlicher Fragestellungen und Auseinandersetzungen zu untersuchen
und schließlich den Vollzug des gefällten Urteils zu beleuchten.
Auf der Grundlage der Staatsanwaltschaftlichen Tagebücher war es in manchen
Fällen möglich, Entscheidungsprozesse innerhalb der Staatsanwaltschaft
zu rekonstruieren, die aus den Gerichtsakten nicht hervorgehen würden.
Als wirklich ergiebig zeigten sich aber nur die Tagebücher für den
"4. Engerau-Prozess", da die Ermittlungen in diesem Fall nicht mit
Urteil abgeschlossen wurden.
Der 1. Engerau-Prozess von 14. - 17. August 1945 gegen vier Angehörige
der SA-Lagerwache von Engerau war die erste Hauptverhandlung vor einem österreichischen
Volksgericht und zog eine dementsprechend große öffentliche Aufmerksamkeit
nach sich. Hier konnte daher aufgrund der umfassenden Zeitungsberichterstattung
am leichtesten von allen Hauptverhandlungen ein anschauliches Bild des Prozessverlaufes
nachgezeichnet werden. Generell war die Frage des Umgangs mit NS-Verbrechen
nicht nur in Österreich zu dieser Zeit ein öffentlich viel diskutiertes
Thema, was eine historische Kontextualisierung möglich macht. In diesem
Zusammenhang ist auch der zweite Engerau-Prozess von 12. - 15. November 1945
gegen weitere fünf Bewachungsorgane zu sehen, der quasi als Fortsetzung
des ersten Prozesses geführt wurde, allerdings bereits vor dem Hintergrund
des Alltags der Volksgerichtsprozesse.
Der 3. Engerau-Prozess von 16. Oktober bis 4. November 1946 war das größte
Verfahren in der Strafsache Engerau und fiel in die Zeit des Höhepunkts
der Volksgerichtsbarkeit in Österreich. In dieser Zeit fanden die wichtigsten,
größten und spektakulärsten Prozesse statt. Aufgrund der großen
Anzahl von Beschuldigten - unter den zehn Angeklagten befanden sich der für
die Schanzarbeiten zuständige Unterabschnittsleiter und sein Stellvertreter
sowie die beiden SA-Lagerkommandanten - und des mit elf Bänden großen
Umfangs an Aktenmaterial konnte das Vorverfahren lediglich hinsichtlich der
Ermittlungsgegenstände untersucht werden. Dessen Verlauf wäre auch
nicht mehr rekonstruierbar gewesen, da große Teile des Aktes in Verstoß
geraten sind, und offenbar nur mehr die wichtigsten Dokumente wieder hergestellt
bzw. neu angelegt wurden.
Nach dem Ende des 3. Engerau-Verfahrens bemühte sich die Staatsanwaltschaft
Wien vergeblich, weiteren mutmaßlichen Hauptverantwortlichen für
die Verbrechen in Engerau den Prozess zu machen. Der - trotz nie durchgeführter
Hauptverhandlung - als "4. Engerau-Prozess" bezeichnete Gerichtsakt
ist neben dem 3. Engerau-Prozess der von der Seitenzahl umfangreichste. Er
besteht aus zahlreichen Ermittlungsverfahren, die im Laufe der Zeit ausgeschieden,
in anderen Verfahren einbezogen bzw. wieder rückeinbezogen worden sind.
Zudem befinden sich im Akt eine Unzahl von Abschriften der vorangegangenen
Untersuchungen in der Strafsache "Engerau". Der Zustand dieses Gerichtsaktes
spiegelt quasi den Zustand der österreichischen Volksgerichtsbarkeit
zu dieser Zeit wieder, die geprägt war vom Bestreben, die justizielle
Ahndung von NS-Verbrechen endlich abzuschließen, nicht zuletzt vor dem
Hintergrund der Wiedereingliederung ehemaliger NationalsozialistInnen in die
Gesellschaft und dem Buhlen der Wählerstimmen ehemals "Illegaler".
1953/54 gelang noch die Verhaftung zweier weiterer tatverdächtiger SA-Männer,
die schließlich im 5. und 6. Engerau-Prozess, am 12. und 13. April 1954
bzw. zwischen 26. und 29. Juli 1954, vor dem Richter standen. Sie bildeten
gleichsam den Schlusspunkt der österreichischen Volksgerichtsbarkeit,
die nach dem Abzug der Alliierten im Dezember 1955 abgeschafft wurde. Diese
beiden, als "Nachzügler" betrachteten Prozesse wurden jeweils
nur gegen eine Person geführt, sind also vom Aufbau des Gerichtsaktes
und dem Verlauf des Verfahrens übersichtlich.
Mit dem Ende des 6. Engerau-Prozesses fanden die Ermittlungen in der Strafsache
Engerau aber noch nicht ihr Ende. Vor allem in den Akten des "4. Engerau-Prozesses"
liegen zahlreiche Dokumente aus den Jahren nach 1955, als die Volksgerichtsbarkeit
bereits in die ordentliche Gerichtsbarkeit übergeleitet worden war.
Neben den seitens der Justiz so bezeichneten Engerau-Prozessen gab es auch
noch einige weitere Verfahren, die - u. a. - Verbrechen im Lager Engerau zum
Gegenstand hatten, aber großteils auf die Hauptprozesse keinen Bezug
nahmen.
Insgesamt wurde in der Strafsache Engerau gegen 71 Personen ermittelt, deren
gerichtliche Verfolgung in dieser Arbeit dokumentiert wird.
Nach der Evakuierung des Lagers Engerau im März 1945 wurden
die Insassen, so sie nicht schon vorher ermordet worden waren, mit einem Schiffstransport
in das KZ Mauthausen verbracht, und mussten in weitere Folge bis in das Waldlager
Gunskirchen bei Wels marschieren, wo sie amerikanische Truppen Anfang Mai
befreiten. Dieser letzte Abschnitt des Schicksales der ungarischen Juden in
Österreich war nicht mehr Gegenstand der Engerau-Prozesse. Es wurde daher
in einem eigenen Kapitel nur kurz darauf eingegangen.
Die "Akteure" der Engerau-Prozesse einer näheren
Betrachtung zu unterziehen, sowie darzustellen, welche sozialwissenschaftlichen
Disziplinen ebenfalls auf die Volksgerichtsakten als Geschichtsquelle zurückgreifen
könnten, ist Ziel des Kapitels "Personen und Funktionen".
Anhand von Biografien ausgewählter in die Verfahren involvierter Juristen
wurde eine Milieustudie versucht. Da Lebensläufe des Justizpersonals,
das die Volksgerichtsprozesse durchführte, aber generell fehlen, sind
keine Vergleichsmöglichkeiten gegeben, weshalb sich eine Gesamteinschätzung
auf einige wenige Thesen beschränken musste.
Aufgrund der im Zuge der Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter und in
der Hauptverhandlung erhobenen "Generalien" der Beschuldigten war
mit Hilfe der Volksgerichtsakten eine Analyse der Sozialstruktur der Täter
möglich. Die in dieser Arbeit angeführten Fallbeispiele sollen die
Möglichkeiten für eine sozialwissenschaftliche Untersuchung aufzeigen,
bedienen sich selbst aber nicht dieser Methoden, da dies den Rahmen der vorgelegten
Arbeit bei weitem überschritten hätte.
Die Opfer waren in den Engerau-Prozessen, wie auch in anderen Volksgerichtsprozessen,
zum überwiegenden Teil nur "stumme Zeugen". Über die Toten
gibt der Gerichtsakt - wenn überhaupt - nur in Form von Exhumierungslisten,
Sachverständigengutachten und Berichten über die Leichenbeschau
Auskunft, die Überlebenden wurden nur in Ausnahmefällen vor Gericht
als Zeugen geladen. Die Geschichte der Engerau-Prozesse ist somit fast ausschließlich
eine solche aus der Sicht der Täter. Dennoch sind die Volksgerichtsakten
zur Erforschung der Geschichte der Opfer eine wichtige Quelle, weil sie erste
Ansatzpunkte über deren Biografie liefern können. Dies war aber
nicht Gegenstand dieser Arbeit, sondern es wurde auf die - überlebenden
- Opfer hier nur in ihrer Funktion als Zeugen in den Hauptverhandlungen eingegangen.
Die Engerau-Prozesse waren Prozesse, bei denen von Männern an Männern
begangene Verbrechen von Gerichten, die sich zum überwiegenden Teil aus
Männern zusammensetzten, geahndet wurden (lediglich Schöffinnen
waren vertreten, Richter, Staatsanwälte und Verteidiger waren ausschließlich
männlich). Justiz war zur Zeit der Engerau-Prozesse fast ausschließlich
"männlich". Der Gender-Aspekt spielte dennoch unübersehbar
eine Rolle, wenn Frauen als Zeuginnen vor Gericht auftraten, oder wenn es
um ihre Rolle als Gattinnen (denen das Gericht den "Ernährer"
nehmen wollte), als Mütter, Töchter, oder als Untergebene ging.
Im Bezug auf die strafrechtliche Ahndung von NS-Verbrechen fehlt jegliche
diesbezügliche Forschung, weshalb in dieser Arbeit nur einige vorläufige
Schlussfolgerungen gezogen werden können.
Die Engerau-Prozesse stellten den größten und längsten
Prozesskomplex der Geschichte der österreichischen Volksgerichtsbarkeit
dar. Deshalb ist die Frage naheliegend, ob und in welchem Ausmaß diese
Prozesse eine Wirkung auf die Öffentlichkeit ausstrahlten. Diese Fragestellung
wurde anhand der Zeitungsberichterstattung über die Prozesse und deren
Niederschlag in der historiografischen Literatur diskutiert. Inwieweit die
Gerichtsakten über mögliche Einflussnahmen der Alliierten, insbesondere
der sowjetischen Besatzungsmacht, in deren Zone sich das Volksgericht Wien
befand, Auskunft geben, behandelt ein weiterer Aspekt des Kapitels "Außenwirkungen
- Einwirkungen von Außen".
Resumee
Hauptanliegen der Arbeit war es, einen Beitrag zur jüngeren österreichischen
Justizgeschichte zu leisten, die die Tätigkeit der österreichischen
Volksgerichte zur Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen bislang nicht
ausreichend gewürdigt hat. Diese Publikation kann aber nur der Anfang
für eine längst notwendige Rezeption der österreichischen Nachkriegsjustiz
generell sein, denn sämtliche Gerichtsakten
beinhalten interessante - manchmal sogar noch unbekannte und daher der wissenschaftlichen
Forschung neue Erkenntnisse bringende - Informationen. Wünschenswert
wäre eine Beschäftigung mit dieser Quellengattung auch von anderen
wissenschaftlichen Disziplinen und nicht nur der Zeitgeschichtsforschung,
denn durch die Fokussierung aus unterschiedlichen Blickwinkeln könnten
der Täterforschung einerseits sowie der Rechtsgeschichte andererseits
wichtige Impulse gegeben werden.
Nicht zuletzt soll die hier vorgelegte Arbeit die unzähligen Opfer der
Vergessenheit entreißen und ihren Leidensweg dokumentieren. Sie stehen
stellvertretend für die Tausenden ungarischen Juden und Jüdinnen,
die zu Kriegsende in Österreich ihr Leben lassen mussten und deren Schicksal
vielfach noch auf eine Aufarbeitung wartet. Die Volksgerichtsakten können
für diese Aufarbeitung einen wertvollen Beitrag leisten.