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  Claudia Kuretsidis-Haider: Verbrechen an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern vor Gericht. Die Engerau-Prozesse vor dem Hintergrund der justiziellen "Vergangenheitsbewältigung" in Österreich (1945–1955).

Dissertation zum größten Prozess-Komplex der Geschichte der österreichischen Volksgerichte

Mit einer Anzeige des 40-jährigen Fleischhauers und Selchers Rudolf Kronberger aus dem 3. Wiener Gemeindebezirk begannen im Mai 1945 die umfangreichsten und am längsten andauernden gerichtlichen Ermittlungen wegen NS-Verbrechen in der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte Österreichs. Sie zogen zwischen 1945 und 1954 zahlreiche Prozesse in Wien nach sich, sechs davon erhielten die Bezeichnung "Engerau-Prozesse".
Die Tatsache, dass österreichische Gerichte Verbrechen an ungarischen Juden, die beim "Südostwall"-Bau auf dem Gebiet der ehemaligen Ostmark Zwangsarbeit leisten mussten, nach 1945 nach österreichischen Gesetzen ahndeten, war über Jahre hinweg ein Forschungsdesiderat und ist international nach wie vor weitgehend unbekannt. Neben den Engerau-Prozessen fanden in Wien, Graz und Linz eine Reihe weiterer "Südostwallverfahren" statt, wie beispielsweise wegen eines Massakers an ungarischen Juden im burgenländischen Rechnitz, wegen der Ermordung von ungarischen Juden in Deutsch-Schützen, sowie Prozesse wegen Verbrechen beim "Südostwall"-Bau im burgen-ländischen Strem. Neben Verbrechen an der österreichischen Zivilbevölkerung zu Kriegsende und Verbrechen bei der Räumung von Justizanstalten zählen die Morde beim "Südostwall"-Bau zu jenen von C. F. Rüter so genannten "Endphaseverbrechen", die in Österreich häufig Gegenstand von Verfahren waren, welche die seitens der Provisorischen österreichischen Regierung bereits im Mai 1945 installierten Volksgerichte auf der Grundlage eigens dafür verabschie-deter Gesetze durchführten.
Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Wider-standes (DÖW) begann 1993 den Forschungsschwerpunkt "Nachkriegsjustiz" mit einem beim Fonds zur Erforschung wissenschaftlicher Forschungen (FWF) eingereichten Projekt "Die Verfahren vor dem Volksgericht Wien (1945 – 1955) als Geschichtsquelle", deren Sachbearbeiterin die Verfasserin gemeinsam mit Winfried R. Garscha war.
Diesem Forschungsvorhaben folgte 1996 ein weiteres Projekt "Die Nachkriegsjustiz als nicht-bürokratische Form der Entnazifizierung: Österreichische Justizakten im europäischen Vergleich. Überlegungen zum strafprozessualen Entstehungszusammenhang und zu den Verwertungsmöglichkeiten für die historische Forschung", an dessen Ende die Gründung der Zentralen Österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz stand, deren wissenschaftliche Leiterin die Verfasserin gemeinsam mit Winfried R. Garscha ist.
Auf der Basis der - nunmehr seit zehn Jahren laufenden Forschungstätigkeit - ist es nunmehr möglich, eine umfangreiche Arbeit über die Tätigkeit des österreichischen Volksgerichtes anhand eines Fallbeispiels - nämlich eines Prozesskomplexes betreffend die Ahndung von Verbrechen an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern - vorzulegen. Herangezogen wurden die "sechs Engerau-Prozesse", die das Volksgericht Wien zwischen dem August 1945 und dem Juli 1954 wegen der von SA-Männern und "Politischen Leitern" an ungarischen Juden verübten Verbrechen im Zuge des "Südostwall"-Baues im Grenzort Engerau / Petrzalka (bei Pressburg / Bratislava) und dem zu Kriegsende erfolgten Evakuierungsmarsches nach Bad Deutsch-Altenburg sowie des anschließenden Schiffstransportes nach Mauthausen, durchführte, sowie einige damit in unmittelbarem Zusammenhang stehende Verfahren.
Ziel dieser rechts- und zeitgeschichtlichen Untersuchung ist eine Analyse der praktischen Tätigkeit des Volksgerichts Wien auf der Grundlage der über 8.000 Seiten umfassenden Gerichtsakten in der Strafsache Engerau, die sich über fast den gesamten Zeitraum des Bestehens der österreichischen Volkgerichtsbarkeit erstreckte. Die sechs Engerau-Prozesse wurden gegen 21 Personen geführt; neun von ihnen wurden zum Tode verurteilt: das waren 21 % der Gesamtzahl an Höchsturteilen der österreichischen Volksgerichte.
Die nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere der Holocaust, waren in den vergangenen Jahrzehnten Gegenstand zahlloser Verarbeitungsversuche durch Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Eine Analyse eines bestimmten Verfahrenskomplexes, welche Gerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen als Form der justiziellen "Vergangenheitsbewältigung" begreift, muss diese in den jeweiligen gesellschaftlichen Diskurs zum Zeitpunkt der Prozesse, aber auch in die seither erfolgten Verarbeitungsversuche einbetten. So sind beispielsweise die beiden großen Mauthausen-Prozesse gegen Vinzenz Gogl in Linz und Wien (1972 und 1975) nicht nur Bestandteil der österreichischen Justizgeschichte, sondern auch der Rezeptionsgeschichte des KZ Mauthausen in der österreichischen Gesellschaft der Zweiten Republik. Diese Meta-Ebene - die Rezeption der Verbrechen durch Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Literatur - existiert für den hier untersuchten Verbrechenskomplex nicht. Die erste geschichtswissenschaftliche Arbeit von Szabolcs Szita, die auf die Verbrechen in Engerau einging, erschien 1983 in ungarischer Sprache. Der zehn Jahre später vom selben Autor in der Zeitschrift "Unsere Heimat" publizierte Aufsatz blieb bis heute die einzige Engerau gewidmete Arbeit in deutscher Sprache. Die Bezugnahme auf den gesellschaftlichen Diskurs musste sich daher auf die Referierung der Zeitungsberichterstattung beschränken.
Angemerkt werden soll jedoch, dass sich die Autorin selbst - im Rahmen ihrer Tätigkeit im "Verein zur Erforschung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen und ihrer Aufarbeitung" - seit mehreren Jahren bemüht, Wissen über die Verbrechen in Engerau im Rahmen der Erwachsenenbildung (Vorträge in Wien und Niederösterreich) zu vermitteln und Formen des Gedenkens zu initiieren.

Die wichtigsten Abschnitte der Arbeit
(Aus der Einleitung)

Die österreichische Volksgerichtsbarkeit war kein von den Entwicklungen im Nachkriegseuropa abgekoppeltes Vorgehen einer Sondergerichtsbarkeit. Im Kapitel "Justizgeschichtliche Einordnung" wird daher das Forschungsthema in einen internationalen Zusammenhang gestellt. Die Engerau-Prozesse fanden vor dem Hintergrund der Ahndung von NS-Verbrechen in zahlreichen europäischen Ländern statt. Diesem justiziellen Umgang mit den Verbrechen und im Besonderen der Anwendung von speziellen Gesetzen liegt eine Vorgeschichte zugrunde, die bis vor den 1. Weltkrieg zurückreicht, weshalb sich ein Rückblick auf die Entwicklung der Ahndung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen als notwendig erwies. Nur vor diesem Hintergrund ist die Durchführung von Prozessen wegen nationalsozialistischer Verbrechen in Österreich und anderen europäischen Ländern verständlich.
Um eine Einordnung der österreichischen Nachkriegsgerichtsbarkeit, insbesondere der ersten zehn Jahre, in Entwicklungen in anderen europäischen Ländern zu ermöglichen, wurde ein Ausblick sowohl auf beide deutsche Staaten als auch auf einige andere - vom nationalsozialistischen Deutschland besetzte - Länder vorgenommen, um zu zeigen, dass der österreichische Weg kein Einzelfall war, aber auch, um auf regionale Unterschiede hinzuweisen.
Zur gleichen Zeit, als österreichische Volksgerichte österreichisches Recht anwandten existierten parallel dazu auch von den vier Besatzungsmächten installierte Militärgerichte, die zum Teil ebenfalls NS-Verbrechen ahndeten, auf die kurz eingegangen wird.
Zwar fand das Gros der in Österreich durchgeführten Prozesse zwischen 1945 und 1955 statt, aber auch nach dem Abzug der Besatzungsmächte wurden noch Verfahren gegen mutmaßliche Täter geführt. Um den Stellenwert der Volksgerichtsbarkeit abschätzen zu können, wird schließlich ein Überblick auf diese zweite Phase des justiziellen Umgangs mit den NS-Verbrechen gegeben.
Die sechs Engerau-Prozesse wurden von so genannten Volksgerichten durchgeführt, welche die Provisorische Regierung bereits in den ersten Wochen des vom NS-Regime befreiten Österreich installierte. Deren Aufgaben, Charakteristika und gesetzlichen Grundlagen sind Gegenstand eines weiteren Unterkapitels der "Justizgeschichtlichen Einordnung".

Der Frage, inwieweit die Ahndung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen durch die eigene Justiz sozusagen durch einen inneren "revolutionären Selbstreinigungsprozess" identitätsstiftend sein könnte, und welche Voraussetzungen dafür geschaffen und umgesetzt werden müssten, geht das Kapitel "Die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen und der Umgang mit der NS-Zeit: Verdrängung oder Identitätsbildung?" nach.

Die Akten des Volksgerichtes Wien und somit auch der sechs Engerau-Prozesse befinden sich im Aktenlager des Landesgerichts für Strafsachen in Wien. Sie müssen laut Verfügung des Gerichts "ständig" aufbewahrt werden. Verfügungsberechtigt ist entsprechend der Geschäftsordnung der Gerichte I. und II. Instanz bis einschließlich fünfzig Jahre nach Abschluss des Gerichtsverfahrens das LG Wien. Die Einsichtnahme in Gerichtsakten ist in der Strafprozessordnung geregelt und für die wissenschaftliche Forschung möglich.
Aus Datenschutzgründen wurden nur die Namen jener Personen genannt, über die im Rahmen der Engerau-Prozesse auch in den Zeitungen zu lesen stand bzw. darüber hinaus gehend solche, die als "Personen der Zeitgeschichte" zu bezeichnen sind. Die Namen der Opfer wurden ebenfalls genannt, ebenso wie die Namen jener Personen, nach denen die polizeiliche Fahndung erfolglos blieb.

Im Mittelpunkt des Kapitels "Quellen und Methodik" steht die Diskussion des Gerichtsaktes - und im speziellen der Engerau-Prozessakten - als Geschichtsquelle. Um ihren Quellenwert einschätzen zu können, müssen Kenntnisse über den Gang eines Schöffengerichtsverfahrens vorhanden sein. Die Vg-Prozesse unterlagen den Regeln der österreichischen Strafprozessordnung, sodass derartige Verfahren vom Ablauf her kaum Unterschiede zu einem "normalen" Gerichtsverfahren aufwiesen. Allerdings waren die Rechtsmittel ausgesetzt.
Ergänzend zu den Volksgerichtsakten wurde auch in anderen (Justiz)quellen recherchiert, nämlich in den staatsanwaltschaftlichen Tagebüchern der Engerau-Verfahren, in Justizverwaltungsakten, Gauakten und Akten des Reichsjustizministeriums im Österreichischen Staatsarchiv / Archiv der Republik, in Akten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von nationalsozialistischen Verbrechen in Ludwigsburg und im Akt der "Slowakischen Staatskommission zur Feststellung der deutschen Verbrechen in der Slowakei". Als weitere wertvolle, die Originalakten ergänzende, Geschichtsquelle erwies sich die Berichterstattung in den Zeitungen, wobei ihre Verwendung eine quellenkritische Herangehensweise erfordert.

Die Zwangsarbeit der ungarischen Juden beim "Südostwall"-Bau war Teil der Vernichtungsstrategie des NS-Regimes. Die Vorgeschichte samt den Gründen ihres Arbeitseinsatzes im Osten Österreichs wird im Kapitel "Historischer Hintergrund" angerissen.

Kernstück, weil zentrales Thema der vorgelegten Arbeit, ist die Geschichte der Engerau-Prozesse zwischen 1945 und 1954. Da der Quellenwert eines Gerichtsaktes nicht nur in der Anklageschrift, dem Hauptverhandlungsprotokoll und dem Urteil begründet ist, wird für alle Prozesse dem Gang des Verfahrens gefolgt. Ziel dieser Vorgangsweise war es, die Ermittlungstätigkeit der Sicherheitsbehörden und der Staatsanwaltschaft zu dokumentieren, Änderungen im Erkenntnisinteresse des Gerichts im Laufe des Vorverfahrens aufzuzeigen, Aussagen von ZeugInnen jenen der Beschuldigten gegenüber zu stellen, zu vergleichen, welche im Vorverfahren hervor gekommenen vermutlichen Tatbestände für anklagreif erachtet wurden, Anklageschrift und Urteilsbegründung einem Vergleich zu unterziehen, die Hauptverhandlungsprotokolle hinsichtlich strafprozessrechtlicher Fragestellungen und Auseinandersetzungen zu untersuchen und schließlich den Vollzug des gefällten Urteils zu beleuchten. Auf der Grundlage der Staatsanwaltschaftlichen Tagebücher war es in manchen Fällen möglich, Entscheidungsprozesse innerhalb der Staatsanwaltschaft zu rekonstruieren, die aus den Gerichtsakten nicht hervorgehen würden. Als wirklich ergiebig zeigten sich aber nur die Tagebücher für den "4. Engerau-Prozess", da die Ermittlungen in diesem Fall nicht mit Urteil abgeschlossen wurden.
Der 1. Engerau-Prozess von 14. - 17. August 1945 gegen vier Angehörige der SA-Lagerwache von Engerau war die erste Hauptverhandlung vor einem österreichischen Volksgericht und zog eine dementsprechend große öffentliche Aufmerksamkeit nach sich. Hier konnte daher aufgrund der umfassenden Zeitungsberichterstattung am leichtesten von allen Hauptverhandlungen ein anschauliches Bild des Prozessverlaufes nachgezeichnet werden. Generell war die Frage des Umgangs mit NS-Verbrechen nicht nur in Österreich zu dieser Zeit ein öffentlich viel diskutiertes Thema, was eine historische Kontextualisierung möglich macht. In diesem Zusammenhang ist auch der zweite Engerau-Prozess von 12. - 15. November 1945 gegen weitere fünf Bewachungsorgane zu sehen, der quasi als Fortsetzung des ersten Prozesses geführt wurde, allerdings bereits vor dem Hintergrund des Alltags der Volksgerichtsprozesse.
Der 3. Engerau-Prozess von 16. Oktober bis 4. November 1946 war das größte Verfahren in der Strafsache Engerau und fiel in die Zeit des Höhepunkts der Volksgerichtsbarkeit in Österreich. In dieser Zeit fanden die wichtigsten, größten und spektakulärsten Prozesse statt. Aufgrund der großen Anzahl von Beschuldigten - unter den zehn Angeklagten befanden sich der für die Schanzarbeiten zuständige Unterabschnittsleiter und sein Stellvertreter sowie die beiden SA-Lagerkommandanten - und des mit elf Bänden großen Umfangs an Aktenmaterial konnte das Vorverfahren lediglich hinsichtlich der Ermittlungsgegenstände untersucht werden. Dessen Verlauf wäre auch nicht mehr rekonstruierbar gewesen, da große Teile des Aktes in Verstoß geraten sind, und offenbar nur mehr die wichtigsten Dokumente wieder hergestellt bzw. neu angelegt wurden.
Nach dem Ende des 3. Engerau-Verfahrens bemühte sich die Staatsanwaltschaft Wien vergeblich, weiteren mutmaßlichen Hauptverantwortlichen für die Verbrechen in Engerau den Prozess zu machen. Der - trotz nie durchgeführter Hauptverhandlung - als "4. Engerau-Prozess" bezeichnete Gerichtsakt ist neben dem 3. Engerau-Prozess der von der Seitenzahl umfangreichste. Er besteht aus zahlreichen Ermittlungsverfahren, die im Laufe der Zeit ausgeschieden, in anderen Verfahren einbezogen bzw. wieder rückeinbezogen worden sind. Zudem befinden sich im Akt eine Unzahl von Abschriften der vorangegangenen Untersuchungen in der Strafsache "Engerau". Der Zustand dieses Gerichtsaktes spiegelt quasi den Zustand der österreichischen Volksgerichtsbarkeit zu dieser Zeit wieder, die geprägt war vom Bestreben, die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen endlich abzuschließen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Wiedereingliederung ehemaliger NationalsozialistInnen in die Gesellschaft und dem Buhlen der Wählerstimmen ehemals "Illegaler".
1953/54 gelang noch die Verhaftung zweier weiterer tatverdächtiger SA-Männer, die schließlich im 5. und 6. Engerau-Prozess, am 12. und 13. April 1954 bzw. zwischen 26. und 29. Juli 1954, vor dem Richter standen. Sie bildeten gleichsam den Schlusspunkt der österreichischen Volksgerichtsbarkeit, die nach dem Abzug der Alliierten im Dezember 1955 abgeschafft wurde. Diese beiden, als "Nachzügler" betrachteten Prozesse wurden jeweils nur gegen eine Person geführt, sind also vom Aufbau des Gerichtsaktes und dem Verlauf des Verfahrens übersichtlich.
Mit dem Ende des 6. Engerau-Prozesses fanden die Ermittlungen in der Strafsache Engerau aber noch nicht ihr Ende. Vor allem in den Akten des "4. Engerau-Prozesses" liegen zahlreiche Dokumente aus den Jahren nach 1955, als die Volksgerichtsbarkeit bereits in die ordentliche Gerichtsbarkeit übergeleitet worden war.
Neben den seitens der Justiz so bezeichneten Engerau-Prozessen gab es auch noch einige weitere Verfahren, die - u. a. - Verbrechen im Lager Engerau zum Gegenstand hatten, aber großteils auf die Hauptprozesse keinen Bezug nahmen.
Insgesamt wurde in der Strafsache Engerau gegen 71 Personen ermittelt, deren gerichtliche Verfolgung in dieser Arbeit dokumentiert wird.

Nach der Evakuierung des Lagers Engerau im März 1945 wurden die Insassen, so sie nicht schon vorher ermordet worden waren, mit einem Schiffstransport in das KZ Mauthausen verbracht, und mussten in weitere Folge bis in das Waldlager Gunskirchen bei Wels marschieren, wo sie amerikanische Truppen Anfang Mai befreiten. Dieser letzte Abschnitt des Schicksales der ungarischen Juden in Österreich war nicht mehr Gegenstand der Engerau-Prozesse. Es wurde daher in einem eigenen Kapitel nur kurz darauf eingegangen.

Die "Akteure" der Engerau-Prozesse einer näheren Betrachtung zu unterziehen, sowie darzustellen, welche sozialwissenschaftlichen Disziplinen ebenfalls auf die Volksgerichtsakten als Geschichtsquelle zurückgreifen könnten, ist Ziel des Kapitels "Personen und Funktionen".
Anhand von Biografien ausgewählter in die Verfahren involvierter Juristen wurde eine Milieustudie versucht. Da Lebensläufe des Justizpersonals, das die Volksgerichtsprozesse durchführte, aber generell fehlen, sind keine Vergleichsmöglichkeiten gegeben, weshalb sich eine Gesamteinschätzung auf einige wenige Thesen beschränken musste.
Aufgrund der im Zuge der Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter und in der Hauptverhandlung erhobenen "Generalien" der Beschuldigten war mit Hilfe der Volksgerichtsakten eine Analyse der Sozialstruktur der Täter möglich. Die in dieser Arbeit angeführten Fallbeispiele sollen die Möglichkeiten für eine sozialwissenschaftliche Untersuchung aufzeigen, bedienen sich selbst aber nicht dieser Methoden, da dies den Rahmen der vorgelegten Arbeit bei weitem überschritten hätte.
Die Opfer waren in den Engerau-Prozessen, wie auch in anderen Volksgerichtsprozessen, zum überwiegenden Teil nur "stumme Zeugen". Über die Toten gibt der Gerichtsakt - wenn überhaupt - nur in Form von Exhumierungslisten, Sachverständigengutachten und Berichten über die Leichenbeschau Auskunft, die Überlebenden wurden nur in Ausnahmefällen vor Gericht als Zeugen geladen. Die Geschichte der Engerau-Prozesse ist somit fast ausschließlich eine solche aus der Sicht der Täter. Dennoch sind die Volksgerichtsakten zur Erforschung der Geschichte der Opfer eine wichtige Quelle, weil sie erste Ansatzpunkte über deren Biografie liefern können. Dies war aber nicht Gegenstand dieser Arbeit, sondern es wurde auf die - überlebenden - Opfer hier nur in ihrer Funktion als Zeugen in den Hauptverhandlungen eingegangen.
Die Engerau-Prozesse waren Prozesse, bei denen von Männern an Männern begangene Verbrechen von Gerichten, die sich zum überwiegenden Teil aus Männern zusammensetzten, geahndet wurden (lediglich Schöffinnen waren vertreten, Richter, Staatsanwälte und Verteidiger waren ausschließlich männlich). Justiz war zur Zeit der Engerau-Prozesse fast ausschließlich "männlich". Der Gender-Aspekt spielte dennoch unübersehbar eine Rolle, wenn Frauen als Zeuginnen vor Gericht auftraten, oder wenn es um ihre Rolle als Gattinnen (denen das Gericht den "Ernährer" nehmen wollte), als Mütter, Töchter, oder als Untergebene ging. Im Bezug auf die strafrechtliche Ahndung von NS-Verbrechen fehlt jegliche diesbezügliche Forschung, weshalb in dieser Arbeit nur einige vorläufige Schlussfolgerungen gezogen werden können.

Die Engerau-Prozesse stellten den größten und längsten Prozesskomplex der Geschichte der österreichischen Volksgerichtsbarkeit dar. Deshalb ist die Frage naheliegend, ob und in welchem Ausmaß diese Prozesse eine Wirkung auf die Öffentlichkeit ausstrahlten. Diese Fragestellung wurde anhand der Zeitungsberichterstattung über die Prozesse und deren Niederschlag in der historiografischen Literatur diskutiert. Inwieweit die Gerichtsakten über mögliche Einflussnahmen der Alliierten, insbesondere der sowjetischen Besatzungsmacht, in deren Zone sich das Volksgericht Wien befand, Auskunft geben, behandelt ein weiterer Aspekt des Kapitels "Außenwirkungen - Einwirkungen von Außen".


Resumee

Hauptanliegen der Arbeit war es, einen Beitrag zur jüngeren österreichischen Justizgeschichte zu leisten, die die Tätigkeit der österreichischen Volksgerichte zur Ahndung von nationalsozialistischen Verbrechen bislang nicht ausreichend gewürdigt hat. Diese Publikation kann aber nur der Anfang für eine längst notwendige Rezeption der österreichischen Nachkriegsjustiz generell sein, denn sämtliche Gerichtsakten beinhalten interessante - manchmal sogar noch unbekannte und daher der wissenschaftlichen Forschung neue Erkenntnisse bringende - Informationen. Wünschenswert wäre eine Beschäftigung mit dieser Quellengattung auch von anderen wissenschaftlichen Disziplinen und nicht nur der Zeitgeschichtsforschung, denn durch die Fokussierung aus unterschiedlichen Blickwinkeln könnten der Täterforschung einerseits sowie der Rechtsgeschichte andererseits wichtige Impulse gegeben werden.
Nicht zuletzt soll die hier vorgelegte Arbeit die unzähligen Opfer der Vergessenheit entreißen und ihren Leidensweg dokumentieren. Sie stehen stellvertretend für die Tausenden ungarischen Juden und Jüdinnen, die zu Kriegsende in Österreich ihr Leben lassen mussten und deren Schicksal vielfach noch auf eine Aufarbeitung wartet. Die Volksgerichtsakten können für diese Aufarbeitung einen wertvollen Beitrag leisten.

Zum Inhaltsverzeichnis

Informationen über den Gratis-Download der Publikation finden Sie hier


Dissertation
betreut von Univ.-Doz. DDr. Oliver Rathkolb (Wien) und Univ.-Prof. Dr. Martin F. Polaschek (Graz)

(2003)