Die Verfilmung von Gerichtsakten des Volksgerichtes
Wien und des Landesgerichts für Strafsachen Wien durch die Zentrale
österreichische Forschungsstelle
Mit der Mikroverfilmung von Akten des Volksgerichtes
Wien wurde im Jahre 1993 mit Unterstützung des Fonds zur Förderung
der wissenschaftlichen Forschung (FWF) im Rahmen des DÖW - Forschungsprojekts
»Die Verfahren vor dem Volksgericht Wien (1945-1955) als Geschichtsquelle«
(Dauer: 1993 bis 1996) begonnen. Im Zuge des Nachfolgeprojekts »Die
Nachkriegsjustiz als nicht-bürokratische Form der Entnazifizierung: Österreichische
Justizakten im europäischen Vergleich. Überlegungen zum strafprozessualen
Entstehungszusammenhang und zu den Verwertungsmöglichkeiten für
die historische Forschung« (ebenfalls durch den FWF finanziert) erfolgte
in den Jahren 1996 bis 1998 die Fortsetzung der Verfilmung. Den thematischen
Schwerpunkt bei der Auswahl der Gerichtsakten bildeten in diesen Jahren folgende
Tatkomplexe:
° Verbrechen der Endphase, begangen von österreichischen SS-, SA-
und Volkssturmmännern und sonstigen NS-Tätern. Dazu zählen
insbesondere die Ermordung und Misshandlung von ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern
im Rahmen des »Süd-ostwallbaus sowie das Massaker im Zuchthaus
Stein am 6. April 1945.
° Verbrechen in Ostgalizien (insbesondere verübt bei der Räumung
der Ghettos), für welche aus Österreich stammende Angehörige
der Deutschen Polizei verantwortlich waren.
° »Euthanasie«-Verbrechen in psychiatrischen Kliniken.
° Sogenannte Schreibtischverbrechen (begangen vor allem in Zusammenhang
mit den Deportationen in die Vernichtungslager).
° Verbrechen, welche von Mitarbeitern der Gestapoleitstelle Wien bzw.
der Gestapo-Außenstelle St. Pölten worden sind.
° Denunziation (insbesondere die Denunziation von WiderstandskämpferInnen).
° Massenvernichtungsverbrechen und Misshandlungen in (Vernichtungs-)lagern.
Hierzu zählen die Verfahren, welche gegen Angehörige des Bewachungspersonals
des KZ Auschwitz, des KZ Mauthausen und seiner Nebenlager und Außenkommandos
sowie anderer Konzentrationslager geführt worden sind.
Für die Eruierung der Gerichtsverfahren wurden Zeitungsmeldungen sowie
im DÖW vorhandene Aktenkopien von Gerichtsakten herangezogen. Die von
Karl Marschall im Jahre 1987 herausgegebene Dokumentation über die »Volksgerichtsbarkeit
und Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich«
stellte eine weitere wichtige Quelle für das Auffinden von relevanten
Verfahren dar. Neben den bereits oben angeführten Tatkomplexen waren
die Funktion des Beschuldigten (Verfahren gegen Kreisleiter der ehemaligen
Reichsgaue Wien und Niederösterreich) und die Höhe des Strafausmaßes
(Todesurteil, lebenslänglicher Kerker, 20 Jahre schwerer Kerker) weitere
Kriterien für die Auswahl der zu verfilmenden Gerichtsakten.
Nach Auslaufen des letzten Projekts wurde die Mikroverfilmung in Kooperation
mit Yad Vashem - The Holocaust Martyr's and Heroes' Remembrance Authority
in Jerusalem fortgesetzt. Dadurch verlagerte sich der Schwerpunkt auf Ermittlungen,
welche wegen der Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen
und Juden in der NS-Zeit (darunter insbesondere Verfahren, welche wegen Massenvernichtungsverbrechen
im KZ Auschwitz und gegen Angehörige von Einsatzkommandos in den sechziger
Jahren eingeleitet worden sind) und missbräuchlicher Bereicherung (»Arisierung«)
geführt worden sind. Bei der Suche nach der Gerichtszahl dieser Verfahren
konnte in den meisten Fällen bereits auf die EDV-Erfassung der »Volksgerichtskartei«
am Wiener Landesgericht zurückgegriffen werden. [1]
Die Verfilmung der Akten erfolgt nach der Bildung von temporär zusammenhängenden
Aktenteilen, welche mit DÖW-Signaturen versehen und während des
Verfilmungsvorgangs mit Lichtmarkierungen (sog. »Blips«) versehen
werden. Diese »Portionierung« des Gerichtsaktes orientiert sich
an der inneren Ordnung des Akts und soll dazu dienen, die Kernstücke
des Verfahrens (Antrags und Verfügungsbogen, Anzeige der Sicherheitsdirektion
mit Zusammenfassung der polizeilichen Ermittlungsergebnisse, Vernehmungsprotokolle
der Beschuldigten und der ZeugInnen, Anklageschrift, Hauptverhandlungsprotokoll
sowie Urteil) auf dem Mikrofilm hervorzuheben und somit ein rascheres Auffinden
zu ermöglichen. Bis September 2000 wurden 606 Gerichtsakten verfilmt
und ausgewertet.
Die Genehmigung zur Verfilmung der Akten wird der Forschungsstelle vom Landesgericht
für Strafsachen Wien gemäß § 82a StPO erteilt. Die Mikrofilme
werden nur für interne Forschungszwecke verwendet. Für eine vor
allem namentliche Auswertung der Akten ist die Einsichtgenehmigung gemäß
§ 82 StPO[2], um welche
im Bedarfsfall gesondert ersucht wird, vonnöten. Der Zugang zu den Mikrofilmen
der Forschungsstelle ist BenützerInnen, welche sich im Besitz der erforderlichen
Einsichtgenehmigung des Landesgerichts befinden, nach Vereinbarung, im DÖW
möglich.
Anmerkungen
[Anm. 1]
Siehe dazu den Beitrag von Susanne Uslu-Pauer und Andrea Steffek in dieser
Ausgabe.
[Anm. 2]
Zur Begriffsbestimmung und Auslegung der Paragraphen 82 und 82a StPO siehe:
Polaschek, Martin F., Eine kleine »Gebrauchsanleitung« für
den Zugang zu Gerichtsakten, Justiz und Erinnerung (damals: "Rundbrief"),
Nr. 2, Dezember 1999, S. 10ff.
Die §§ 82 und 82a StPO wurden 2008 durch den § 77
der neuen Strafprozessordnung ersetzt.
Ergänzung Dezember 2005:
Bisher wurden 1.100 (hauptsächlich Wiener) Verfahren formal
und inhaltlich ausgewertet und anschließend (auf insgesamt 200 Mikrofilmen
à 2.100 bis 2.200 Aufnahmen) verfilmt. In Absprache mit Yad Vashem
und USHMM wurde die Verfilmung auf jene Verfahren konzentriert, die für
die Holocaust-Forschung besondere Relevanz haben.
Die Zugangsbeschänkungen für BenutzerInnen in Jerusalem und Washington
wurden, in Absprache mit dem Bundesministerium für Justiz, analog zu
den in Österreich geltenden Regelungen festgelegt.
Ergänzung Februar 2009:
Die 260 Mikrofilme dieser Sammlung beinhalten die jeweils kompletten Akten von 1.450 Gerichtsverfahren – zum Großteil vor dem Volksgericht Wien – mit den oben beschriebenen thematischen Schwerpunkten. Verfahren, die nach dem Juni 2006 verfilmt wurden, können nicht mehr eingesehen werden, da ab diesem Zeitpunkt die Verfügung über die Akten von der Justiz an das Wiener Stadt- und Landesarchiv überging.
Detaillierte Auskünfte
zur Rechtslage finden Sie im Bereich "Suche nach Gerichtsakten" dieser WebSite.
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