Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz
(FStN)
In den Aktenlagern der Gerichte und Staatsanwaltschaften und in den österreichischen Landesarchiven werden um- fangreiche Bestände der zahlreichen (der Rechts-
und Zeitgeschichtsforschung teilweise bis heute unbekannten) Gerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen aufbewahrt. Die Mehrheit von ihnen dokumentiert staatsanwaltschaftliche und gerichtliche
Untersuchungen, die vor der Erhebung der Anklage eingestellt wurden – sei es, weil die Tat- verdächtigen bereits verstorben waren oder unauffindbar blieben, sei es, weil des
Staatsanwälten die Beweislage hinsichtlich der möglichen Angeklagten zu unsicher er- schien, um einen Prozess vor einem Geschworenengericht zu eröffnen. Besonders in jenen
Fällen, in denen auf der Grundlage der staatsanwaltschaftlichen Vorerhebungen eine gerichtliche Voruntersuchung eingeleitet wurde, können auch die Akten eingestellter Verfahren Dutzende
Bände dick sein.
Unabhängig vom Ausgang dieser Verfahren stellen die Ermittlungsakten eine einmalige historische Quelle dar. Allerdings gibt es bis heute nur für die Akten des Volks- gerichts Linz
(1946-1955) ein vollständiges Register mit Aktenbeschreibungen; dieses wurde von der Forschungs- stelle Nachkriegsjustiz gemeinsam mit dem Oberösterrei- chischen Landesarchiv erstellt.
Für das Volksgericht Wien (1945-1955) existiert immerhin ein komplettes Register, gegen welche Personen wegen welcher Paragraphen ein Verfahren eingeleitet wurde. Die Forschungsstelle Nach-
kriegsjustiz hat dieses Vr-Register um die Einträge im Hauptverhandlungsregister erweitert, womit es möglich ist, festzustellen, gegen welche dieser Personen Anklage erhoben und welche
Urteile wegen welcher Paragraphen gefällt wurden.
Ein Gesamtregister, das es erlauben würden, sämtliche in Österreich geführten Prozesse zu bestimmten Verbre- chenskomplexen (z.B. Holocaust oder Euthanasie) oder zu Verbrechen
in einer bestimmten Ortschaft oder in einem KZ zuzuordnen, existiert bis heute nicht.
Die am 14. Dezember 1998 gegründete Forschungsstelle Nachkriegsjustiz (FStN) dokumentiert die Akten der justiziel- en Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in Österreich. Sie ist
somit ein Aufbewahrungsort von Wissen über die Akten, nicht aber von Akten selbst (wohl aber von Papier- kopien, Mikrofilmen und digitalen Speichermedien).
Die Dokumentation erfolgt mittels elektronischer Findhilfs- mittel und Mikrofilmkopien und seit 2012 auch digitaler Kopien. Die Recherche- und Erschließungsarbeiten werden am
Dokumentationsarchiv des österreichischen Wider- standes (DÖW) durchgeführt, die Mikrofilme werden im Staatsarchiv (ÖStA) aufbewahrt; an beiden Orten finden auch Veranstaltungen
der Forschungsstelle statt.
Ermöglicht wird die Tätigkeit der FStN durch das Entgegen- kommen der Justizverwaltung und die Zusammenarbeit mit den Landesarchiven und den Aktenlagern der Gerichte und Staatsanwaltschaften,
in erster Linie aber mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Mittelfristiges Ziel ist es, sämtliche staatsanwaltschaftlichen und richterlichen Untersuchungen zu
NS-Gewaltverbrechen in Österreich zu erfassen, nach den untersuchten Verbrechen und Tatorten auszuwerten sowie abfragbar zu machen. 2011 hat die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz in Kooperation
mit dem US Holocaust Memorial Museum mit der Erfassung aller seit der Abschaffung der Volksgerichte (1955) geführten Ermittlungen wegen NS-Verbrechen durch österreichische
Staatsanwaltschaften und Untersuchungsrichter begonnen.
Damit in die Antworten von Politik und Justiz auf heutige Kriegs- und Humanitätsverbrechen die Erfahrungen der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen einfließen kön- nen, ist die
Kenntnis (und wissenschaftliche Aufarbeitung) ihrer »Bewältigung« nach 1945 vonnöten.
Durch die Erforschung der Nachkriegsjustiz und die Sicherung ihrer Dokumente wird somit ein auch für die tagespolitischen Herausforderungen der Gegenwart wichtiger
Teil des euro- päischen Rechtskulturerbes bewahrt und tradiert.
Sammlungen und Findhilfsmittel
Das Pilotprojekt »Datenbank Volksgericht Linz« und die weitere Erfassung der Akten der österreichischen Nach- kriegsprozesse
Inhaltliche Angaben zu den Verfahren sowie zu Tatort und Tatzeit der Verbrechen, die Gegenstand des Prozesses waren, enthält die Datenbank,
die von der FStN gemeinsam mit dem Oberösterreichischen Landesarchiv (OÖLA) 2000 bis 2005 erstellt wurde. Die wichtigsten Angaben der Datenbank wurden in die interne Aktenabfrage des
OÖLA integriert.
Die Verfahren vor dem Volksgerichts Linz und seinen Außen- senaten in Ried/Innkreis und Salzburg wurden kurz beschrie- ben mit Hilfe des Kategoriensystem beschlagwortet, das der Amsterdamer
Strafrechtsprofessor C. F. Rüter für die Dokumentation der deutschen Prozesseentwickelt hat (www1.jur.uva.nl/junsv). Die Arbeit wurde vom Bundesminis- terium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Land Oberöster- reich, Stadt Linz und DÖW finanziert.
Das Projekt erlaubte auch erstmals eine realistische Kosten- schätzung für eine gesamtösterreichische Datenbank aller Gerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen: Hierfür wären
Mittel in der Höhe von 500.000 € erforderlich. Da die Auf- bringung eines Betrags dieser Größenordnung aus öffent- lichen Mitteln angesichts der massiven Einsparungen bei der
Förderung geistes- und rechtswissenschaftlicher Forschun- gen in Österreich illusorisch erscheint, wird die Forschungs- stelle Nachkriegsjustiz die Erfassung an den übrigen
Gerichtsstandorten in den nächsten Jahren in kleinen Schritten versuchen, die für die historische Forschung wichtigsten Prozesse zu dokumentieren. Im Zuge des weiter unten beschriebenen Projekts »Justiz und NS-Gewaltver- brechen in Österreich: Regionale Besonderheiten und Vergleich mit Deutschland« konnten zumindest die mit Urteil abgeschlossenen 526 Verfahren wegen Tötungsdelikten vor allen vier Volksgerichten erfasst und ausgewertet werden.
Elektronische Fassung der »Vg-Kartei«
am Landesgericht Wien
Nach einem von DÖW und Yad Vashem getragenen Pilot- projekt wurde 1999/2000
am LG Wien die »phonetische
Kartei« der Vorerhebungen und Voruntersuchungen
am Volksgericht Wien (1945–1955) elektronisch erfasst. Die Arbeit wurde durch Zuwendungen von Privatpersonen, Subventionen des Bundesministeriums
für Justiz, der Gemeinde Wien sowie in- und ausländischer Einrichtungen ermöglicht, darunter das USHMM Washington, die Israeliti- sche Kultusgemeinde
und die Arbeitsgemeinschaft der KZ-Verbände. Die Datenbank wurde 2002/2003 durch eine Auswertung der Hauptverhandlungsregister ergänzt. Damit ist
feststellbar, wegen welcher Paragraphen Ermittlungen gegen welche Personen geführt und welche Personen abgeurteilt wurden. Die Register enthalten
jedoch keine Angaben zum Gegenstand des jeweiligen Verfahrens bzw. zu den gegen die Beschuldigten erhobenen Tatvorwürfen. Allerdings wird das elektronische
Findhilfsmittel ständig ergänzt durch Verfahrensbeschreibungen jener Prozesse, deren Akten in der
Forschungsstelle Nachkriegsjustiz mikroverfilmt werden.
Volksgerichtsurteile wegen Misshandlungs- und
Tötungsdelikten
2003 wurde im Rahmen des vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen
Forschung (FWF) finanzierten Projekts »Justiz
und NS-Gewaltverbrechen« eine Sammlung von Ko- pien der Anklageschriften
und Urteile von Verfahren wegen Tötungsdelikten vor den Volksgerichten Wien angelegt,
die inzwischen mit den analogen Urteilen
der übrigen Volks- gerichte komplettiert wurde. Für Wien enthält
die Sammlung auch Anklageschriften und Urteile in Prozessen wegen Misshandlung
und Verletzung der Menschenwürde sowie in Prozessen wegen »Arisierung«.
Staatsanwaltschaftliche Tagebücher
Dank der Unterstützung von Staatsanwaltschaften und Oberstaatsanwaltschaften
konnten 2004/2005 von einer Reihe großer Verfahren der sechziger und
siebziger Jahre, insbesondere wegen des Massenmords an Jüdinnen und Juden,
StA-Tagebücher bzw. OStA-Handakten kopiert werden, die eine Rekonstruktion
des Gangs der Verfahren erlauben.
Die Aktenkopien werden am Sitz der Forschungsstelle im Dokumentationsarchiv
des österreichischen Widerstandes aufbewahrt und sind – unter
Berücksichtigung der für Gerichts- und Staatsanwaltschaftsakten
geltenden gesetzlichen Bestimmungen (diese finden Sie hier) – ent- sprechend
der Benützer- ordnung des DÖW einsehbar. Allerdings ersuchen wir Sie
um rechtzeitige Voranmeldung,
um eine optimale Betreuung gewährleisten zu können.
Arbeitsschwerpunkte
Mikroverfilmung von Wiener Verfahren wegen NS-Ver- brechen
1993 bis 2011 wurden 1.700 Prozessakten (Schwerpunkt: Wiener Volksgerichtsverfahren wegen Verbrechen an Juden/Jüdinnen) vollständig mikroverfilmt und formal sowie inhaltlich ausgewertet. Am
Beginn dieser Sicherungs- aktion für einen zentralen Aktenbestand der österreichischen
Rechts- und Zeitgeschichtsforschung standen zwei vom FWF finanzierte Projekte
des DÖW. 1998 konnte die Verfilmung am DÖW mit Unterstützung
von Yad Vashem, Jerusalem, fortgesetzt werden. Im Juli 2002 stieg das US Holocaust Memorial Museum, Washington, in des Gemeinschaftsprojekt ein und wurde zu dessen Hauptfinancier.
Diese Mikroverfilmung stellte in erster Linie eine Sicherungs- maßnahme für die –
teilweise bereits beschädigten – Akten dar. Die Einsichtnahme in die Filme unterliegt
Beschränkun- gen, die Herstellung von Kopien ist nicht möglich. Kopien können nur von
den Originalakten angefertigt werden. Die Originalakten der Wiener Volksgerichtsverfahren
(1945– 1955) liegen seit 2006 im Wiener Stadt- und Landesarchiv und können dort gemäß
der geltenden Archivordnung hin- sichtlich der Verkürzung von Schutzfristen (siehe Tipps zur Suche nach Gerichtsakten)
eingesehen und kopiert werden.
Justiz und NS-Gewaltverbrechen in Österreich: Regionale Besonderheiten
und Vergleich mit Deutschland
Die Ahndung von NS-Gewaltverbrechen durch die ver- schiedenen österreichischen
Gerichte – bezogen sowohl auf regionale Unterschiede in der Rechtsprechung
als auch auf die Unterschiede zwischen Volks- und Geschworenen- gerichtsbarkeit
– sowie den Umgang der Justiz mit NS-Tätern in Österreich
mit jenen in (West- und Ost-) Deutschland zu vergleichen, war Aufgabe dieses
Forschungsvorhabens.
Die Arbeit wurde mit einem vom Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank
finanzierten Teil-Projekt »Gesellschaft
und Justiz – Entwicklung der rechtlichen Grund- lagen, öffentliches
Echo und politische Auseinandersetzungen um die Ahndung von NS-Verbrechen
in Österreich« begonnen. Das Projekt
wurde 2001–2004 über den Verein zur Förderung justizgeschichtlicher
Forschungen abgewickelt und vom DÖW logistisch unterstützt.
Von Oktober 2002 bis März 2006 führten die Forschungs- stelle Nachkriegsjustiz,
das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und das
Institut für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische
Rechtsentwicklung der Universität Graz ein vom FWF finanziertes Projekt
durch, dessen Ergebnisse in dem von den drei Projektleitern Albrich/Garscha/Polaschek
herausgegebenen Band
»Holocaust
und Kriegsverbrechen vor Gericht: Der Fall Österreich«
zusammengefasst und auf der internationalen Tagung »Genocide
on Trial« in Graz präsentiert wurden.
Europäische Kooperationsprojekte
Ausgehend von einer im April 1999 eingeleiteten Kooperation zwischen der Forschungsstelle
Nachkriegsjustiz, dem Straf- rechtsinstitut der Universität Amsterdam und
der Haupt- kommission zur Verfolgung von Verbrechen am polnischen Volk wurde ein
europäischer Datenverbund angedacht, der sich in der ersten Ausbaustufe
auf Urteile wegen Tötungs- verbrechen beschränken sollte. Aus organisatorischen und finanziellen Gründen mussten die diesbezüglichen
Pläne bis auf Weiteres aufgeschoben werden.
Allerdings arbeitet das Forschungs- und Dokumentations- zentrum Kriegsverbrecherprozesse
an der Philipps-Universi- tät Universität Marburg/Lahn, zu dem intensive
Arbeitskon- takte bestehen, genau in diese Richtung und bezieht dabei auch die Nachkriegsprozesse in Ostasien mit ein. Weitere Kontakte bestehen zum
Institut für Zeitgeschichte/München
und anderen deutschen ForscherInnen sowie zu Instituten und Einzelpersonen in Tschechien, Ungarn, Frankreich und den USA.
Im Zuge des 2009 bis 2011
durchgeführten Forschungs- projekts zum Vergleich der justiziellen Ahndung der im KZ Lublin-Majdanek begangenen Verbrechen in Polen, Deutschland und Österreich
konnten die Kontakte in Polen ausgebaut und zu mehreren Einrichtungen Beziehungen hergestellt werden, die für zukünftige Kooperationsprojekte (beispielsweise
über österreichische Täter, Helfer und Opfer im deutsch besetzten Krakau und im KZ Płaszów) genutzt werden können.
Publikationsprojekte
Eines der Ergebnisse des Projekts »Justiz und NS-Gewaltver- brechen«
ist eine provisorische Liste österreichischer Urteile wegen NS-Tötungsverbrechen.
Auf dieses Basis war geplant, in Per- spektive – nach dem Muster von »Justiz
und NS-Verbrechen« bzw. »DDR-Justiz und NS-Verbrechen« –
eine Urteilsedition unter dem Titel
»Österreichische
Justiz und NS-Verbrechen«
heraus zu bringen. Für die Leitung des internationalen
Redaktionskollegiums konnte C. F. Rüter (Amsterdam) gewonnen werden (siehe
Projekt-Exposé). Aus organisatoischen und finanziellen Gründen konnte das Projekt in der geplanten Form nicht realisiert werden. 2019 begannen Vorarbeiten für eine (anonymisierte) Internet-Datenbank der fast 1.000 österreichischen Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen nach Abschaffung der Volksgerichte 1955 sowie der mit Urteil abgeschlossenen Verfahren, und zwar der mehr als 500 Verfahren wegen Tötungsdelikten, in denen die Volksgerichte (1945-1955) Urteile fällten, und der 35 Verfahren vor Geschworenengerichten, in denen zwischen 1956 und 2000 eine rechtskräftige Anklage erhoben wurden (zwischen 1956 und 1975 wurden 20 Angeklagte schuldig gesprochen und 22 Angeklagte frei gesprochen).
In der Anfangsphase in den 1990er Jahren, als noch nicht klar war, welche recht- liche Form (Verein, Stiftung, interuniversitäre Einrichtung) die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz erhalten soll, ermöglichten zeei Unterstützungsvereine die Tätigkeit der Forschungsstel- le: der Verein
zur Förderung justizgeschichtlicher Forschungen und der Verein
zur Erforschung nationalsozialistischer Gewalt- verbrechen und ihrer Aufarbeitung.
Sie wurden am 30. Mai 2007 aufgelöst. Die bisher vom Verein
zur Erforschung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen und ihrer Aufarbeitung durchgeführten Forschungsprojekte werden künftig über
den Verein Erinnern für die Zukunft abgewickelt werden.
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