Das Wiener Volksgerichtsverfahren
gegen
Viktor Reindl und Johann Karl Stich
Führende österreichische NS-Juristen
stehen vor Gericht – aber ausschließlich wegen zweier Justizmorde
bei Kriegsende: Standrechtliche Erschießung von 12 WiderstandkämpferInnen
der Gruppe um den Polizeibeamten Dr. Otto Kirchl und den Gutsbesitzer Josef
Trauttmansdorff 13. April 1945 in Sankt Pölten und Erschießung von
44 Personen, die zum Tode verurteilt worden waren, aber wegen Annäherung
der Front in Wien nicht mehr hingerichtet werden konnten, im Hof des Zuchthauses
Stein am 15. April 1945
Angeklagte: Dr. Viktor Reindl, Dr. Johann Karl
Stich, Franz Dobravsky
(LG Wien Vg 12 Vr 1181/45)
Kurze Falldarstellung
Dr. Viktor Reindl war seit 1930
Richter für den Oberlandesgerichtssprengel Wien. 1932 trat er der NSDAP
bei. Im Juni 1935 wurde er Staatsanwalt in Wien. Im März 1940 erfolgte
die Ernennung zum Landesgerichtsdirektor beim Landesgericht Wien, 1941 die
Berufung an das Oberlandesgericht Wien an einen Senat für Hoch- und Landesverratssachen,
wo er sowohl als Beisitzer als auch als Vorsitzender tätig war. Zudem
leitete er eine Referendar-Arbeitsgemeinschaft zur Heranbildung des richterlichen
und rechtsanwaltlichen Nachwuchses. Am 23. Februar 1948 wurde Reindl u.a.
angeklagt, er habe am 13. April 1945 in St. Pölten (Niederdonau) als
Vorsitzender des Standgerichtes des Reichsverteidigungskommissars für
Niederdonau die Standgerichtsverhandlung gegen Dr. Otto Kirchl (dieser war
stellvertretender Polizeidirektor von St. Pölten und Führer einer
Widerstandsgruppe) und andere "überstürzt" durchgeführt
(12 der 13 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt und unverzüglich hingerichtet)
und die von ihm angeklagten Personen "in einen qualvollen Zustand versetzt".
Seine Tätigkeit am Oberlandesgericht war nicht Gegenstand der Anklage.
Dr. Johann Karl Stich war in den dreißiger
Jahren Staatsanwalt in Krems. 1930 trat er der NSDAP bei. 1934 wurden gegen
ihn wegen nationalsozialistischer Betätigung disziplinarrechtliche Untersuchungen
eingeleitet, in deren Folge er zu drei Wochen Haft verurteilt und seines Dienstes
enthoben wurde. Nach seiner neuerlichen Einstellung war er bei der Staatsanwaltschaft
II in Wien tätig. Kurz nach der Annexion Österreichs wurde Stich
mit der Leitung der Staatsanwaltschaft I in Wien betraut und am 1. April 1939
zum Leiter der Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht in Wien mit dem Titel
Generalstaatsanwalt berufen. Am 23. Februar 1948 wurde Stich u.a. angeklagt,
er habe am 13. April 1945 beim Standgericht in St. Pölten "den Übeltaten
des (...) Reindl durch Einschüchterung der damals Angeklagten Hilfe geleistet".
Seine Tätigkeit als Generalstaatsanwalt war nicht Gegenstand der Anklage.
Franz Dobravsky war kein Angehöriger des
Justizapparats; er fungierte als Beisitzer des St. Pöltener Standgerichts.
Die Hauptverhandlung gegen die drei Angeklagten fand vom 10.
Mai bis 18. Juni 1948 in Wien statt.
Reindl erhielt eine Freiheitsstrafe von fünf
Jahren schweren Kerkers. Er wurde freigesprochen, seine Amtspflicht durch
eine "überstürzte”" Amtsführung verletzt zu
haben. Schuldig war er lediglich, Vorsitzender des Standgerichts und Mitglied
der illegalen NSDAP gewesen zu sein.
Stich erhielt eine Freiheitsstrafe von acht
Jahren schweren Kerkers. Er wurde freigesprochen, den "angeblichen Übeltaten
des (...) Reindl durch Einschüchterung der damals Angeklagten Hilfe geleistet"
zu haben. Für schuldig wurde er befunden, Mitglied der illegalen NSDAP
gewesen zu sein.
Franz Dobravsky wurde zu zwei Jahren schweren
Kerkers verurteilt.
Bei allen drei Verurteilten wurde auf Verfall des gesamten Vermögens
entschieden.
= Auszug aus:
Claudia Kuretsidis-Haider / Hans Hautmann
Justizverbrechen als Instrument der inneren Kriegsführung und als Gegenstand
der Kriegsfolgenbewältigung in Österreich (Vergleich 1. und 2. Weltkrieg)
Referat auf dem 19. Internationalen Kongress der Historischen Wissenschaften
Oslo, 6.-13. August 2000
Weiterführende Links
Auszüge aus der Anklageschrift vom 23.2.1948 gegen Reindl,
Stich und andere (aus: Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich 1934-1945, Bd. 2, S. 515-519) auf der DÖW-WebSite
"Die Räumung der Justizhaftanstalten 1945 als Gegenstand
von Nachkriegsprozessen am Beispiel des Volksgerichtsverfahrens gegen Leo
Pilz und 14 weitere Angeklagte" von Winfried R. Garscha und Claudia Kuretsidis-Haider – Beitrag auf der DÖW-WebSite PDF-Download
Materialien im DÖW
a) Akten
DÖW 20.705/2 (=E19.278), Anklageschrift des Volksgerichts
Wien (Vg 8 Vr 398/51) vom 23.2.1948 gegen Dr. Viktor Reindl, Dr. Johann Karl
Stich und Franz Dobravsky.
Auszugsweise abgedruckt in: Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich.
Eine Dokumentation (Wien 1987), Bd. 2, S. 516-519.
DÖW 20.705/3, Urteil des Volksgerichts Wien (Vg 8
Vr 398/51) vom 18.6.1948 gegen Dr. Viktor Reindl, Dr. Johann Karl Stich und
Franz Dobravsky.
b) Literatur
Dr.jur. Wolfgang Stadler, "...Juristisch bin ich nicht
zu fassen." Die Verfahren des Volksgerichts Wien gegen Richter und Staatsanwälte
1945-1955. Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie aus
der Studienrichtung Geschichte, eingereicht an der Universität Wien (2004),
S. 217-219 und S. 295-297. – DÖW-Bibl. 12.334
Diese Arbeit wurde 2005 mit dem von DÖW und ITH vergebenen
"Herbert-Steiner-Preis" ausgezeichnet.
Die Dokumentation "Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich"
enthält in Band 2 (S. 554-557) einen Auszug aus dem Urteil mit den Namen
jener 44 zum Tode verurteilter Personen, die auf Veranlassung von Generalstaatsanwalt
Stich am 5. April 1945 vom Wiener Landesgericht für Strafsachen in Richtung
Zuchthaus Stein an der Donau in Marsch gesetzt wurden. Sie wurden auf dort
am 15. April 1945 – neun Tage nach dem Massaker an Hunderten Insassen
des Zuchthauses Stein vom 6. April 1945 – auf Befehl von NSDAP-Gauleiter
Hugo Jury durch Genickschuss ermordet.
Die Ereignisse rund um das Standgericht in Sankt Pölten
sind Thema des 2005 uraufgeführten Films "Der Fall Trauttmansdorff"
Eine Liste mit biografischen Angaben zu den Hingerichteten findet sich in: Heinz Arnberger/Claudia Kuretsidis-Haider, Gedenken und Mahnen in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Widerstand, Verfolgung, Exil und Befreiung, Wien 2011, S. 447-448.
Dokumente
Aus dem Urteil des Volksgerichts Wien vom 18.6.1948:
Es sind schuldig:
[...]
Dr. Johann Stich
[...]
habe in Verbindung mit seiner Betätigung für die NSDAP im April
1945 in Krems Handlungen aus besonders verwerflicher Gesinnung begangen,
die gleichzeitig den Gesetzen der Menschlichkeit gröblich widersprechen,
indem er Amtspflichten betreffend gerichtlich zum Tode verurteilte Häftlinge
aus einer Furcht vernachlässigte, die über das von ihm einsehbare
Maß hinaus zu parteipolitischer Willfährigkeit überging;
daraus seien Hinrichtungen erfolgt, deren zu Grunde liegende Gesetzesverletzungen
wegen geänderter verhältnisse vom Standpunkte der Menschlichkeit
nicht mehr todeswürdig erschienen und die daher zu unterbleiben hatten.
[...]
Hierdurch haben begangen:
Dr. Viktor Reindl, Dr. Johann Karl Stich unhd Franz Dobravsky jeder allein
das Verbrechen des Hochverrats im Sinne des § 58 StG in der Fassung
der §§ 10 u.
11 VG 1947.
[...]
Es werden gemäß § 259/3
[StPO] freigesprochen
I./ Dr. Viktor Reindl
von der Anklage:
1./ er habe sich am 13.IV.1945 in St. Pölten als Vorsitzender des Standgerichtes
des Reichsverteidigungskommissars für Niederdonau anlässlich der
Standgerichtsverhandlung gegen Dr. Otto Kirchl und andere von der gesetzmäßigen
Erfüllung seiner Amtspflichten insofern abbringen lassen, dass er die
Verhandlung unter Außerachtlassung der entsprechenden Vorschriften
der Strafprozessordnung "überstürzt" durchführte;
2./ er habe am 13.IV.1945 in St. Pölten zur Zeit der N.S. Gewaltverrschaft
unter Ausnützung seiner Gewalt als Vorsitzender des Standgerichts die
vor diesem angeklagten Personen in einen qualvollen Zustand versetzt.
II./ Dr. Johann Karl Stich
habe am 13.IV.1945 in St. Pölten zu den unter I./1 und 2 bezeichneten
angeblichen Übeltaten des Dr. Viktor Reindl durch Einschüchterung
der damals Angeklagten Hilfe geleistet.
[Es folgt eine 43seitige Urteilsbegründung]
Die Prozessberichte der Arbeiter-Zeitung
"Nazirichter auf der Anklagebank"
Prozessauftakt / Anklageverlesung
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480511_A02;html=1
"Der Prozeß gegen die Nazijustiz"
Einvernahmen von Riedl und Stich zu den Themen Illegale NSDAP und Justiz im
NS
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480512_A03;html=1
"Verhandlung über die Nazijustiz"
Weitere Einvernahme von Riedl und Stich zum Thema Standgerichte
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480513_A02;html=1
"Die zwölf Hingerichteten von
St. Pölten"
Weitere Einvernahme von Riedl und Stich zu den Todesurteilen beim Standgericht
St. Pölten
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480514_A03;html=1
"Die Gefangenenerschießungen
in Stein"
Einvernahme Stich zu Gefangenenerschießungen in Stein
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480515_A03;html=1
"Scharf, schroff und zynisch"
ZeugInnen Haucke und Gunselius zu Reindls Urteilen
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480516_A06;html=1
"Entlastungszeugen für Dr.
Reindl"
Aussagen von EntlastungszeugInnen für Reindl sowie das Thema Illegale
NSDAP
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480519_A03;html=1
"Dr. Stich bevorzugte Österreicher"
Entlastungszeuge Walter Rabe für Stich (Kurzmeldung)
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480520_A03;html=1
"Die 'Kollegen' entlasten Dr. Stich"
Entlastungszeugen Konrad Zachar und Dr. Gräf für Stich (Kurzmeldung)
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480521_A03;html=1
"Die Kellerpartien des Dr. Stich"
Zeugen Felix Bayer, Dr. Seelig, Otto Arlow und Ullmann zur Amtsführung
von Stich sowie das Thema Alkoholismus bei Stich
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480522_A05;html=1
"War das Nazistandgericht legal?"
Belastungszeugen Hans Zillinger und Dr. Hanak / Entschuldigung Dr. Suchomel
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480523_A03;html=1
"Einer von dreizehn..."
Belastungszeuge Josef Koller (einziger Überlebender des Standgerichts
in St. Pölten) / Entlastungszeugen Hans Hoyer und Karl Brunnbauer
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480525_A03;html=1
"Der besoffene Reichsjustizminister"
Entlastungszeuge Ludwig Kadecka, Belastungszeugen Paul Lux und Josef Schweller
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480526_A03;html=1
"Richter als Zeugen"
Ärztliches Gutachten Zeuge Suchomel / ZeugInnen Margarete Grebenigg (entlastet
Reindl), Dr. Klein und Dr. Moyzisch (belasten Reindl), sowie Dr. Zehetgruber
(entlastet Stich)
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480527_A04;html=1
"Dr. Stich hat vierundvierzig Hinrichtungen
befohlen"
Zeugen Karl Peter Macha und Josef Wedl (beide ehem. Gestapo) belasten Stich
in der Frage des Befehls zur Hinrichtung der 44 Gefangenen in Stein
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480529_A04;html=1
"Dr. Stich – ein Opfer der
Justiz!"
Zeugen Dr. Pöhr und Oskar Welzel belasten Stich in der Hinrichtungsfrage
der 44 Gefangenen in Stein
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480530_A04;html=1
"Ein lebhafter Tag im Stich-Prozeß"
Überlegungen zur Suchomel-Einvernahme / Verhaftung der Belastungszeugin
Anna Schrott wg. Verdachts der Falschaussage
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480601_A03;html=1
"Aus Schlamperei hingerichtet?"
Neues ärztliches Gutachten für Suchomel bestellt / Beweismaterial
zum Gefangenentransport nach Stein
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480602_A03;html=1
"Sektionschef Suchomel und die Zeugenpflicht"
Suchomel wird als vernehmungsfähig eingestuft
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480604_A02;html=1
"Dr. Suchomel sagt aus"
Zeuge Dr. Hugo Suchomel
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480605_A03;html=1
"Umbringen, damit Ruhe ist"
Zeuge Hans Blaschke sowie ehem. Justizwachebeamte und Angehörige von
Hingerichteten
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480609_A03;html=1
"Vor dem Urteil im Prozeß
Stich-Reindl"
Plädoyer des Staatsanwalts Dr. Lassmann
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480615_A04;html=1
"Stich und Reindl verurteilt"
Urteilsverkündung: Reindl 5 Jahre, Stich 8 Jahre schweren Kerkers
http://www.arbeiter-zeitung.at/cgi-bin/archiv/
flash.pl?seite=19480619_A02;html=1
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