Ried im Innkreis: Ein milder Gerichtshof für »Hochverräter« Ein neu aufgetauchtes Register ermöglicht
erstmals statistische Zahlen zum Außensenat Ried des Volksgerichts Linz
(1947–1950)
Seit vielen Jahren »fahndet« Franz Scharf vom Oberösterreichischen
Landesarchiv nach Registern, Karteien und anderen Findbehelfen, die die Benützung
der im OÖLA gesammelten Staatsanwaltschafts- und Gerichtsakten erleichtern
– beispielsweise für das gegenwärtig von der Forschungsstelle
Nachkriegsjustiz durchgeführte Projekt »Justiz und NS-Gewaltverbrechen«,
das auch einen Vergleich der Tätigkeit der einzelnen Volksgerichte bezweckt.
Aus einem von der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis an das OÖLA abgegebenen
Register, das im August 2003 ausgewertet wurde, lassen sich erstmals der tatsächliche
Umfang sowie die inhaltliche Schwerpunktsetzung der Tätigkeit des zur
Entlastung des Linzer Volksgerichts eingerichteten Außensenats Ried
beurteilen, der nach einem Beschluss des Landesgerichts Linz vom 24. Februar
1947 (LG Linz Jv 2449-3/47) am 22. April 1947 seine Tätigkeit aufnahm.
Das von der Staatsanwaltschaft unter der Bezeichnung »6 Nst« (neben
dem »normalen« St-Register) geführte Register enthält
jene vom Volksgericht Linz an den Außensenat Ried abgetretenen Fälle,
in denen am Kreisgericht Ried tatsächlich eine Hauptverhandlung durchgeführt
wurde, stellt also eine Art staatsanwaltschaftliches Hv-Register dar. Demnach
wurden zwischen 8. Mai 1947 (Datum der ersten Verhandlung) und 22. November
1950 (Datum der letzten Verhandlung) in Ried in 334 Hauptverhandlungen 359
Personen abgeurteilt, das sind 8,3 % aller Angeklagten, über die 1946–1955
im Volksgerichtssprengel Linz (=Oberösterreich südlich der Donau
und Salzburg, d.h. US-Besatzungszone) Urteile gefällt wurden. Die Gesamtzahl
der vom Volksgericht Linz nach Ried abgetretenen Fälle ist höher,
doch wurden zahlreiche Verfahren noch vor Erhebung der Anklage, zum Teil aber
auch noch nach Anberaumung der Hauptverhandlung, vom Außensenat Ried
wieder nach Linz rückabgetreten oder an andere Gerichte delegiert; die
letztgenannten Fälle (insgesamt 18) scheinen im Register auf.
Die Rubriken in dem handschriftlich geführten Register entsprechen dem
»Allgemeinen Register Nc, Ns u. Jv«. Interessant sind vor allem
die Angaben in der Rubrik »Bemerkungen«: entweder Datum der Hauptverhandlung(en)
und des Urteils (Freispruch ist als Ȥ259/2
StPO« bzw. »§259/3
StPO« vermerkt), auch Urteil ohne Strafe (»§
265 StPO«), ferner die Einrechnung der Vorhaftzeiten, oder aber
»Rückabtretung an Vg Linz« bzw. Rücktritt von der Anklage
(Ȥ
227 StPO«). Weiters enthält diese Rubrik eventuelle Bemerkungen
zur Frage, ob die Staatsanwaltschaft eine Überprüfung eines Freispruchs
durch den Obersten Gerichtshof veranlassen sollte (meist heißt es ausdrücklich
»keine Überprüfung«, einige Male aber auch »Überprüfung
verspricht keinen Erfolg!«).
Die statistische Auswertung des Registers lässt erkennen,
dass der Hauptzweck des Außensenats in Ried im Innkreis nicht in erster
Linie darin bestand, für das Innviertel mit seinen schlechten Verkehrsverbindungen
nach Linz einen regionalen Gerichtshof zur Aburteilung der Delikte nach dem
Verbots- und Kriegsverbrechergesetz zu schaffen, sondern das Volksgericht
Linz von so genannten Entnazifizierungsprozessen – d.h. Verfahren, die
ausschließlich wegen Hochverrats, Illegalität oder Registrierungsbetrugs
geführt wurden – zu entlasten.
Der Anteil der Prozesse wegen §§ 8, 10, 11 Verbotsgesetz (Registrierungsbetrug,
Illegalität) bzw. § 58 Strafgesetz (Hochverrat) war zwar in Ried
etwa gleich hoch wie im ganzen Linzer Volksgerichtssprengel, (jeweils über
80 %), doch wurden die meisten Rieder Verfahren ausschließlich wegen
dieser Paragraphen geführt, während »Verratsdelikte«
vor den übrigen Senaten des Volksgerichts Linz nur einen von mehreren
Anklagepunkten darstellten. Die Tendenz, »schwere Fälle«
wie Kriegsverbrechen, Mord, Misshandlung oder Raub (»Arisierung«)
nicht in Ried abzuhandeln, ist unverkennbar.
Der Vergleich der sonstigen Anklageparagraphen zeigt, dass in Ried fast ausschließlich
NationalsozialistInnen, die nur wegen »Verratsdelikten« angeklagt
waren, vor Gericht gestellt wurden. Der Anteil der Prozesse, in denen es (meist
zusätzlich zu »Verratsdelikten«) um Denunziation (§
7 KVG) ging, betrug in Ried weniger als zehn Prozent, für den gesamten
Sprengel des Volksgerichts Linz hingegen fast zwanzig Prozent. Bei allen anderen
Anklagepunkten sind die Unterschiede zwischen den vor dem Volksgericht Linz
und dem Außensenat Ried geführten Hauptverhandlungen noch gravierender:
Im Prozess verhandelte NS-Verbrechen
(gemäß Anklageparagraphen)
Vg Linz gesamt
davon Außen-senat Ried
Denunziation (ohne Todesfolge)
19,6 %
9,6 %
Misshandlung, Verletzung der Menschenwürde
7,8 %
0,2 %
Tötungsverbrechen
5,9 %
0,0 %
Arisierung
0,9 %
< 0,1 %
Von den 359 vom Außensenat Ried abgeurteilten Angeklagten wurden 139 schuldig
gesprochen und 220 freigesprochen, Schuld- bzw. Freisprüche betragen somit
38,7 % bzw. 61,3 %, was eine außerordentlich hohe Rate an Freisprüchen
darstellt.
Zum Vergleich:
Der
Anteil der Schuldsprüche und Freisprüche an allen Urteilssprüchen
im Volksgerichtssprengel Linz beträgt 46,2 % bzw. 53,8 %, nämlich
1.993 bzw. 2.320 von 4.313 abgeurteilten Angeklagten; das Verfahren gegen 1.645
Angeklagte, d.h. 27,6 %, wurde vor der Verhängung eines Urteils eingestellt
(die Gesamtzahl der Angeklagten im Volksgerichtssprengel Linz betrug 5.958).
Die Verurteilungsrate gemessen an der Gesamtzahl der Angeklagten betrug im ganzen
Volksgerichtssprengel Linz somit 33,5 %. Für den Außensenat Ried
lässt sich diese Rate nicht berechnen, weil ausschließlich solche
Fälle nach Ried delegiert wurden, in denen kein Rücktritt der Staatsanwaltschaft
von der Anklage (gemäß § 227 StPO) oder Verfahrenseinstellungen
gemäß § 2 Abs. 4 oder § 422 StPO mehr zu erwarten waren:
Nur bei 13 der 396 im Register aufscheinenden Personen (=3,3 %) wurde das Verfahren
von der Staatsanwaltschaft Ried gemäß diesen Paragraphen eingestellt.
Ried dürfte somit der am mildesten urteilende Volksgerichtssenat
in ganz Österreich gewesen sein. Der Anteil der Schuldsprüche und
Freisprüche an den Urteilssprüchen aller österreichischen Volksgerichte
betrug 58 % bzw. 42 %, nämlich 13.607 bzw. 9.870 von 23.471 abgeurteilten
Angeklagten; das Verfahren gegen 4.677 Angeklagte, d.h. 16,6 %, wurde vor
der Verhängung eines Urteils eingestellt (die Gesamtzahl der Angeklagten
vor allen österreichischen Volksgerichten betrug 28.148). Die Verurteilungsrate
gemessen an der Gesamtzahl der Angeklagten betrug im gesamtösterreichischen
Durchschnitt somit 48,3 %.
Anmerkung: Die tatsächliche
Gesamtzahl der abgeurteilten Angeklagten ist geringer, weil die amtliche
Statistik die Anzahl der verhängten Urteile und nicht der abgeurteilten
Personen enthält; insgesamt dürften aber in ganz Österreich
nur über wenige Hundert Personen Urteile in Wiederaufnahmeverfahren
(nach der Aufhebung des Ersturteils) verhängt worden sein, was die
Prozentzahlen nur unwesentlich beeinflusst.
Angeklagte / Abgeurteilte / Verurteilte
alle österr. Volks- gerichte
Vg Linz gesamt
Außen- senat
Ried
Anteil der Verurteilten
an den abgeurteilten Angeklagten
58 %
46,2 %
38,7 %
Anteil der Verurteilten
an allen Angeklagten
48,3 %
33,5 %
k. A.
Anteil der Angeklagten
ohne Urteil
16,6 %
27,6 %
3,3 %
Eine vergleichbare Aufstellung über die Tätigkeit des Außensenats
Salzburg des Volksgerichts Linz ist beim gegenwärtigen Forschungsstand
noch nicht möglich. Der Außensenat Salzburg hatte jedoch nicht
nur eine größere Anzahl von Verfahren, sondern vor allem auch ein
– hinsichtlich der Verhandlungsgegenstände – wesentlich breiteres
Spektrum zu bewältigen, darunter auch Verbrechen in Konzentrationslagern
(LG Linz Vg 8 Vr 3310/47). Die Tätigkeit des Außensenats Ried unterscheidet
sich aber vor allem auch von jener der ständigen Außensenate des
Volksgerichts Graz in Leoben und Klagenfurt, die wie selbständige Volksgerichte
agierten und – im Falle Klagenfurts – sogar Todesurteile verhängten.
Neben den staatsanwaltschaftlichen Registern hat das Landesarchiv
auch die Handakten des Präsidenten des Kreisgerichts Ried (Rudolf Watzek-Mischan),
der gleichzeitig Leiter des Außensenats des Volksgerichts war, übernommen.
Mit den Volksgerichtsprozessen im Zusammenhang standen in vielen
Fällen auch Verfahren wegen Wahlbetrugs, die – allerdings vor ordentlichen
Gerichten – gegen NationalsozialistInnen geführt wurden, die trotz
ihrer Ausschließung vom Wahlrecht an den Nationalratswahlen im November
1945 teilgenommen hatten. In Ried wurden knapp 200 derartige Verfahren (gemäß
§ 7 Wahlgesetz) geführt. Auch von diesen Prozessen sind Verzeichnisse
– die regelmäßig an die amerikanische Besatzungsmacht abgeliefert
werden mussten – erhalten geblieben.
Rudolf Watzek-Mischan K.u.k. Militärrichter – Vizepräsident
des OLG Graz – KZ-Häftling in Dachau und Buchenwald – Senatsvorsitzender
des Volksgerichts/Außensenat Ried