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Der Wiener Euthanasieprozess gegen Heinrich GROSS

Der am 21. März 2000 abgebrochene und am 28. April 2006 eingestellte Prozess vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien war nicht die erste Gerichtsverhandlung gegen Dr. Heinrich Gross.

Der 1915 geborenen Arzt war ab 1932 HJ- und ab 1933 SA-Mitglied (April 1937: Ernennung zum SA-Oberscharführer, 1938 SA-Obertruppführer der Sanität) gewesen, nicht jedoch Mitglied der illegalen NSDAP. Dennoch bekam er mit der NSDAP-Mitgliedsnummer 6.335.729 eine Nummer aus dem für "Illegale" reservierten Nummernblock, auch das Datum der Aufnahme in die NSDAP (1. Mai 1938) war das für "Illegale" vorgesehene (formelle) Beitrittsdatum.
Gegen Heinrich Gross wurde bereits im Zuge der großen "Steinhof-Prozesses" gegen den Kinderarzt Ernst
Illing wegen des Verdachts der Beteiligung am Mord (§ 134 StG) ermittelt. 1950, nach 2 Jahren Untersuchungshaft, stand Gross selbst vor Gericht: Die Anklageschrift vom 19. Februar 1950 (Staatsanwaltschaft Wien 15 St 2917/50) lautete auf Totschlag (§ 212 RStGB) und "Illegalität" (§§ 10, 11 VG). Am 29. März 1950 verurteilte ihn das Volksgericht Wien (Geschäftszahl: LG Wien Vg 1a Vr 1601/48) wegen Totschlags zu 2 Jahren Kerker, von der Anklage bezüglich §§ 10, 11 VG, § 58 StG (Hochverrat durch "Illegalität") wurde er jedoch freigesprochen. Am 27. April 1951 hob der Oberste Gerichtshof das Urteil auf (6 Os 21/51), doch wurde keine neuerliche Hauptverhandlung mehr durchgeführt: bereits im Mai 1951 wurde das Verfahren (das unter der Geschäftszahl LG Wien Vg 1a Vr 174/51 eingeleitet worden war) gemäß § 227 StPO (Zurückziehung der Anklage) eingestellt.

Das 1997 eingeleitete Verfahren (LG Wien 23b 12100/97) wird wegen des Verdachts der Ermordnung von 9 Kindern in der Wiener Kinderheilanstalt Am Spiegelgrund in den Monaten Juli bis September 1944 geführt. Da dieser Tatvorwurf, der sich auf Dokumente gründet, die erst in den 1990er Jahren in ehemaligen DDR-Archiven gefunden wurden, dem Volksgericht noch nicht bekannt war, war er nicht Gegenstand der Verfahrenseinstellung von 1951, was die Voraussetzung für die Eröffnung eines neuerlichen Gerichtsverfahrens bildete. Im Zuge dieses Verfahrens wurden der Staatsanwaltschaft weitere mutmaßliche Tatbestände bekannt, von denen das Volksgericht keine Kenntnis hatte, weshalb parallel zu dem Verfahren , in dem bereits 1999 Anklage erhoben worden war, eine weitere Voruntersuchung gegen Heinrich Gross eingeleitet wurde (ursprüngliche Geschäftszahl: 23b Vr 3585/99, neu: 232 Ur 2636/99w). Nach dem Tod des Beschuldigten (15. Dezember 2005) wurden im April 2006 sämtliche Verfahren gegen ihn eingestellt.

Links:

ORF-Meldung (05.07.2006) über Ehrung für überlebende "Spiegelgrund"-Opfer
Meldungen über den Tod Gross' im ORF (22.12.2005) und in der "Presse" (23.12.2005)
Interview von CliniCum vom 31. März 2005 mit Wolfgang Neugebauer über die "Fachgruppe Ärzte" des Bunds Sozialistischer Akademiker (BSA), deren Mitglied Heinrich Gross war
Text über Heinrich Gross in der virtuellen Ausstellung "Gedenkstätte Steinhof"
Aberkennung des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse durch Bildungsministerin Gehrer (BM:BWK-Pressemitteilung vom 9. April 2003)
Herwig Czech: Forschen ohne Skrupel. Die wissen- schaftliche Verwertung von Opfern der NS-Psychiatriemorde in Wien (aus: eforum-zeitgeschichte Nr. 1/2001)

Übersicht über das Verfahren LG Wien 30e Vr 12100/97
Übersicht über österreichische Euthanasieprozesse